Michael Moores Dokufilm „Bowling for Columbine“ über die Hintergründe des Schulmassakers von Columbine bei Denver 1999 hatte etwas Beruhigendes für die deutsche Elite. Solche Amokläufe in Schulen sind ein Oberschichtenproblem, denn auffällig oft finden sich reiche Streber unter den Opfern – „Jocks“, wie die Sportcracks an der Columbine High School hießen, die ein ausgeklügeltes System zur Unterdrückung der Schulversager entwickelt hatten.
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Amokläufer Bastian B. |
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Bei Michael Moore sieht es am Ende so aus, als seien kulturelle Besonderheiten der US-Gesellschaft Schuld. Schließlich gehe es in ähnlich waffenvernarrten Ländern wie Kanada oder der Schweiz viel zivilisierter zu. Entwarnung also für das deutsche Bürgertum: Uns kann das nicht passieren, nur den doofen Amis – bis es uns doch passierte, im Gutenberg-Gymnasium zu Erfurt 2002, mit 16 Toten, einem mehr als in Columbine.
Da war es immerhin noch möglich, mit dem Finger auf den verrohten Osten zu zeigen (und indirekt die DDR für die Tat verantwortlich zu machen). Am 20. November hat es jedoch auch den tiefsten Westen ereilt: Der 18-Jährige Bastian Bosse legte Sprengfallen in seiner ehemaligen Realschule, der Geschwister-Scholl-Schule im münsterländischen Emsdetten, und beschoss Schüler und Lehrer. Der Amoklauf endete mit einem Todesopfer (dem Täter selbst) und 27 Verletzten, die Aufregung war aber mindestens so groß wie im Fall Erfurt. Hier ging es schließlich um eine ruhige Schule in einer braven Stadt, die im Schulprogramm einen Schwerpunkt auf das „Soziale Lernen“ legt und ein Programm gegen Mobbing hat.
Die Reflexe der bürgerlichen Politiker funktionierten hervorragend. Sie mussten etwas tun, und eine einfache Erklärung musste her. Da traf es sich gut, dass Bastian Bosse einen Teil seines Lebens unter dem Decknamen „ResistantX“ im Kriegsspiel „Counterstrike“ verbracht hatte. „Killerspiele verbieten!“, hieß nun der Schlachtruf der Innenpolitiker wie Wolfgang Bosbach, Jörg Schönbohm (beide CDU) oder Dieter Wiefelspütz (SPD), und etliche Spitzenpolitiker schlossen sich an, um nicht als „weak on terror“ dazustehen. Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags hatte schnell ein Gutachten parat, dass man Killerspiele durchaus verbieten könne. Der Gesetzgeber müsse nur klar definieren, was das eigentlich ist (schließlich ist sogar Schach ein Killerspiel, wenn auch ein wenig realistisches).
Dabei war es selten so schwer wie in Emsdetten, die wahren Gründe zu übersehen. Bastian Bosse hatte sie nämlich aufgeschrieben und ins Internet gestellt, „weil ich weiß, dass die Fascholizei meine Videos, Schulhefte, Tagebücher, einfach alles, nicht veröffentlichen will“. Die Seite wurde denn auch schnell gesperrt, „Bild“ veröffentlichte den Text, fein säuberlich von allen entscheidenden Passagen getrennt. Denn was Bastian da aufgeschrieben hatte, war eine Anklage gegen diese Gesellschaft.
Viele seiner dokumentierten Gedanken zeugen davon, dass Bastian selbst ein Produkt dieser Gesellschaft war – wenn er sich als „richtigen Individualisten“ bezeichnet, oder auch, wenn er Tiraden bis hin zu „alle vergasen“ loslässt, nach denen er selbst einsieht, klarstellen zu müssen, dass er „kein Scheiß Nazi“ war. Dass er in den Grenzen der kapitalistischen Gesellschaft gefangen war (wie er übrigens selbst bekannte), verleitete ihn wohl auch zu dem naiven und gefährlichen Glauben, mit der Wahnsinnstat „meinen Teil zur Revolution der Ausgestoßenen beitragen“ zu können. Und deshalb sah er wohl auch in den „Jocks“ an der Schule seine wahren Feinde.
Die Kernaussagen sind aber erstaunlich klar: Man müsse „seinem Leben einen Sinn geben, und das mache ich nicht, indem ich einem überbezahlten Chef im Arsch rumkrieche oder mich von Faschisten verarschen lasse, die mir erzählen wollen, wir leben in einer Volksherrschaft.“ Das System hieß für ihn „S.A.A.R.T.“ – Schule, Ausbildung, Arbeit, Rente, Tod.
Was also ist das wahre Killerspiel, das diese sinnlose Gewalt hervorruft und dringend verboten werden muss? Es heißt Kapitalismus.
Marc, Düsseldorf
PS: Für die Freunde einfacher Erklärungen hat dieser Artikel ein alternatives Ende: Eine andere Theorie besagt, dass Katastrophen mit der Häufigkeit des Buchstaben E im Ortsnamen erklärt werden können – Grubenunglück von Lengede, ICE-Unfall in Eschede, Explosion einer Feuerwerksfabrik in Enschede, Amoklauf in Emsdetten… Wer in Essen-Steele wohnt, sollte sich also schleunigst in Sicherheit bringen.
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