Unter der Überschrift "Kann die Holocaust-Religion alles Böse heilen?" hat die katholische Webseite www.kreuz.net einen neuen Feind im Glaubenssupermarkt ausgemacht: die "Religon des Holocaust". Kern dieser neuen "Religion", die "die Juden als das messianische Volk feiert", sei die Annahme, "daß seit Jahrtausenden alle umgebenden Völker die Juden mehr oder weniger gehaßt und verfolgt hätten. Diese Verfolgung sei in der Vernichtung von ungefähr 6 Millionen europäischen Juden durch die Nationalsozialisten kumuliert, bei der die anderen Völker – und natürlich die Kirche – tatenlos zugesehen hätten." [Konjunktiv im Original!] - "Der Holocaust stellt sich als eine Art säkularer Erlösungsmythos dar, der zu der christlichen Erlösungslehre in Konkurrenz und Widerspruch steht". Fazit des Autors: "Einem Christen ist es freilich nicht möglich, der Holocaust-Zivilreligion Glauben zu schenken oder ihr gar zu opfern."
Holocaust-Leugnung mal von ganz anderer Seite, aber mit den altbekannten Stereotypen: "die Juden" seien von einer "missionarischen Aufgabe", sich selbst als Opfer und damit bessere Menschen hinzustellen, beseelt: "Der Holocaust wird gewissermaßen als moralisches Schutzschild hochgehalten, mit der jede Menschenrechtsanklage gegen Israel abgewehrt wird". "Diese Holocaust-Interpretation paßt sich wunderbar in die US-amerikanische Eigen- und Menschheitsvision ein".
Der Autor Leo G. Schüchter, der sich (nicht ohne Grund) hinter der Aussage im Impressum der Seite, die "die strikte Anonymität seiner Informanten zu wahren", verstecken kann, sieht die "Zivilreligion" des Holocaust, die an die Leiden der Juden insb. unter dem deutschen Faschismus erinnere, als Konkurrenz an: "Christus hat sich am Kreuz geopfert für die Erlösung der Welt. Als schuldlos Leidender hat er die Sünden der Welt getragen, durch seine Leiden sind wir geheilt (Jes 53)". Was den in Auschwitz ermordeten Juden, ihren Verwandten und ihren Nachkommen (u. a. in Israel) der Kreuzestod Christi vor 2000 Jahren gebracht haben soll, benennt er nicht.
Drahtzieher hinter dieser breitangelegten Verschwörung jüdischer Kreise, die mit ihrer "Zivilreligion" die Welt erobern wollen, seien "jüdische Großorganisationen in Amerika", die nicht zuletzt aus diesem Grunde "mit solcher Energie und Abwehr den Gibson-Film „Die Passion“ bekämpft haben".
Der Artikel ist eine Vermengung klassischer Argumentationslinien der Holocaust-Leugner, die "dem Juden" unterstellen, mit dem "Schuld-Kult" auf Wiedergutmachungsjagd gegangen zu sein und heute mit dem Verweis auf die (ihrer Meinung nach erfundenen) historischen Verbrechen an den Juden jegliche Politik Israels zu rechtfertigen, und mittelalterlicher antijüdischer Rhetorik klerikaler Prägung: "die Juden" als Christusmörder, die nicht zum einzig wahren Glauben finden und obendrein Greuel an der Christenheit begehen: die Zentrale der jüdischen Verschwörung, auch das gemahnt an die faschistischen Holocaust-Leugner vom Schlage eines Horst Mahler, sitzt in den USA, in Gestalt mächtiger "jüdischer Großorganisationen", die wohl so geheim sind, dass es dem Autor unmöglich ist, ihre Namen zu benennen. Man kann sich denken, worauf das zielen soll.
Die Webseite www.kreuz.net, laut Eigenaussage "die Initiative einer internationalen privaten Gruppe von Katholiken in Europa und Übersee, die hauptberuflich im kirchlichen Dienst tätig sind", ist irgendwo in den USA gehostet und damit (juristisch) kaum greifbar für die Veröffentlichung solchen Schundes. Deutlich wird Eines: die "dunkle Seite" der in letzter Zeit so modisch-locker daherkommenden katholischen Religion, die mit Kirchentagen, Papst-Superstar-Auftritten und deutschtümelnder Benedikt-Verehrung beinahe einen modernen Anstrich bekam, drängt immer wieder durch - solange die christliche Geschichte, die neben vielen anderen Verbrechen an der Menschheit auch durch ihr Schweigen zum Holocaust historische Schuld auf sich lud, nicht wirklich aufgearbeitet ist.
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Ein Buch über das ganze Katholen-G'sindl und ihren Zampano, das ich recht erhellend gefunden hab.
• Kommentar zum Artikel von Andrea:
Samstag, 24.02.2007 - 10:50
Bei diesem Schund ist es nicht erheblich, ob nun im engeren Sinne der Holocaust geleugnet wird oder nicht, sondern die FUNKTION, den Holocaust zu entsorgen, indem man mittels Kritik an seiner Verarbeitung durch die Betroffenen in einem Aufwasch die eigene Schuld entsorgt (der Konjunktiv laesst offen, ob sie besteht und schiebt damit deren Relevanz in den Hintergrund) und zugleich eine neue Runde des Antisemtismus einlaeutet mit der Botschaft: "Was immer den Juden geschehen ist, berechtigt sie nicht, sich als Opfer der Geschichte zu sehen" etc. etc. Der Fokus wird vom Holocaust weg auf dessen Verarbeitung durch die Opfer gelegt - ein gefundenes Fressen fuer QUERFRONT-Strategen.
Dass dies im christlichen Gewand einherschreitet, ist doppelt widerlich: Ihre Verbrechergeschichte fusst unter anderem auf dem "Mythos" der Christenverfolgung (Karlheinz Deschner). Die instutionalisierte Christenheit stellt heute noch den maechtigsten Schamanen und wagt es, andere ausgerechnet in Fragen der "Mythosbildung" zu kritisieren. Ihr Kult basiert auf dem rueckstaendigsten Obskurantismus, den sich eine Relegion ausdenken kann (die Afrikaner nennen die Christen Kannibalisten, da sie ihren eigenen Gott fressen - das macht hier nun wirklich keiner ...)
Aber zurueck zur QUERFRONT-Funktion, die das eigentlich gefaehrliche an diesem Schund ist: Wieviele junge Christen (und wieviele Linke?!) lassen sich beeindrucken von der Kritik, nun haetten die Juden jede Unterdrueckung/Anspruch auf Wiedergutmachung fuer sich gepachtet und koennten sich alles leisten (siehe Israel) ...
• Kommentar zum Artikel von 127712:
Montag, 11.12.2006 - 18:41
Da hast du schon recht, Hardcore.
Allerdings käme man mit religionsphilosophischer Interpretation dieses Unfugs nicht weit, weil es schlichte Tatsachenverdrehung und darauf basierende absurde Schlussfolgerei ist. Was man fordern muss, ist, wie du schon sagtest, die allgemeine Kriminalisierung (und die etwas handfestere Sanktion) solcher Absonderungen, denn mit der vielgerühmten Meinungsfreiheit kann das doch wohl kaum noch irgendwas zu tun haben. Aber nein, in Du-bist-Deutschland-Land ist das offensichtlich schon zuviel verlangt.
• Kommentar zum Artikel von 127757:
Montag, 11.12.2006 - 12:37
naja, Alex & Ivan, mag ja alles ganz interessant sein, zur Sache hier trägt es allerdings nun wirklich nicht viel bei... Man tut diesen Antisemiten zuviel der Ehre, wenn man ihre Absonderungen noch religionsphilosophisch interpretiert. Das sind einfach kriminelle Äußerungen. Da hilft kein Voltaire und kein Diderot, sondern nur ein heilsamer Klaps auf den Hinterkopf.
• Kommentar zum Artikel von 127712:
Montag, 11.12.2006 - 10:51
Aber gerne!
Mmmmmmmmmmmhm...Diderot! Allerdings bin ich auch sehr begeistert von Voltaire. Wenn du da auch was hast -> her!
Kommentar zum Artikel von Ivan:
Sonntag, 10.12.2006 - 09:55
ich denke, wir werden Alex' Kritik nicht gerecht. Ich habe vor nicht allzu langer Zeit begonnen, mich für die französische Aufklärung zu interessieren. Wir sind tatsächlich wieder 230 Jahre in der laizistischen Weltansschauung zurückgeworfen. Diderots philosphische Gedanken sind einfach nur erfrischend. Alex, ich kann Dir eine Kostprobe kopieren und zuschicken, wenn Du magst
Kommentar zum Artikel von secarts:
Samstag, 09.12.2006 - 13:15
hier geht es nur vordergründig um Religion. Dass die Katholen Schiss vor jedweder Konkurrenz haben, bemäntelt nur allzu dürftig die wahre Stoßrichtung dieses Pamphlets - das hier ist altbekannter Antisemitismus. Und der kann zwar, muss aber nicht religiös motiviert sein. Über die zugrundeliegende politökonomische Funktion bringen wir demnächst ein Themenspecial - nur mal so als Ankündigung :)
• Kommentar zum Artikel von 127712:
Samstag, 09.12.2006 - 13:05
Dass Religionen überhaupt noch so einen hohen Stellenwert haben ist doch ein totales Armutszeugnis, ein großartiger Beweis der allgemeinen Unmündigkeit unserer sich ach so emanzipiert wähnenden Gesellschaft. Meiner Meinung nach völlige Ressourcenverschwendung...sollten die Leute sich lieber mal schlaulesen als in der Kirche die Zeit zu verplempern.
PS: Im Eichsfeld wirkt das alles etwas krasser.
Kommentar zum Artikel von Ivan:
Samstag, 09.12.2006 - 12:16
ich denke, es geht um die Tendenz, die beide Kontrahenten in diesem Streitgespräch gleichermaßen bemerken; einen katholischer Fundamentalismus, eine Spielart des Katholizismus, die tatsächlich mindestens an den Faschismus anschlussgähig ist. Die Gegenseite; zu untersuchen wäre der Schulterschluss zwischen katholischer Kirche und Islam. Wird dieser durch Benedikt verschärft, haben die Muslime die Botschaft nicht empfangen oder wollen sie sich der Führerschaft Benedikts nur nicht beugen? Ich berufe mich hier nur auf das ach so umstrittene Zitat. Fakt ist; bei diesem Zungenschlag wird die jüdische Religion ausgespart! denn eines ist gewiss; selten gelingt zu dritt ein Kuss... Ivan P.S. ich hoffe, dass in Folge nicht der schlechte Reim diskutiert wird, aber das Bild gefällt mir.
Kommentar zum Artikel von secarts:
Donnerstag, 07.12.2006 - 19:45
Stephan, du übersiehst den (vom Autor ja nicht ohne Grund gewählten) Konjunktiv bei deiner Darstellung seiner "Zivilreligion" - nicht der Autor sieht den Antisemitismus als "grundlose Mißgunst gegen alles Jüdische", sondern der Autor stellt in diesem Satz die Sicht der jüdischen "Großorganisationen" dar - und macht damit so mir nichts, dir nichts ein historisches Faktum zum "Mythos"...
Ich denke, diese Konjunktivorgie muss ganz genau gelesen werden, um den wahren Kern herauszudestillieren: "Der Haß auf das jüdische Volk habe grundsätzlich nichts mit dem tatsächlichen und historischen Verhalten der Juden zu tun, der Antisemitismus sei eine grundlose Mißgunst gegen alles Jüdische." (alle Hervorhebungen in den Zitaten aus dem kreuz.net-Artikel von mir)
Dieser Satz ist eine Zuschreibung einer bestimmten Ansicht; durch die Konjunktivwahl wird der (historisch erwiesene) Fakt der Irrationalität des Antisemitismus zu einer Ansichtssache - der Urheber dieser Weltsicht wird drei Absätze weiter oben im kreuz.net-Artikel erwähnt: "Die jüdischen Großorganisationen in Amerika haben diesen Spies umgedreht und einen neuen reziproken Mythos entwickelt:". Es ist klar: "jüdische Großorganisationen" unterstellen, dass der Haß auf das jüdische Volk et cetera et cetera...
Ein Absatz über dem ersten Zitat: "Diese Verfolgung sei in der Vernichtung von ungefähr 6 Millionen europäischen Juden durch die Nationalsozialisten kumuliert, bei der die anderen Völker – und natürlich die Kirche – tatenlos zugesehen hätten." Übersetzt: Die "jüdischen Großorganisationen", die einen "reziproken Mythos" entwickeln, unterstellen, diese Verfolgung sei in der Vernichtung von ungefähr 6 Millionen Juden kulminiert et cetera et cetera...
Die Tendenz dieses Artikels: die wissenschaftlich erwiesenen historischen Fakten, die Ermordung von 6 Millionen Juden, die wissenschaftliche Unhaltbarkeit des Antisemitismus, werden als "reziproker Mythos" (nur reziprok zum tatsächlichen Antisemitismus, "der Jude" sei an allem schuld) ominöser "jüdischer Großorganisationen" hingestellt. Wenn dazu noch der Schlußsatz kommt: "Einem Christen ist es freilich nicht möglich, der Holocaust-Zivilreligion Glauben zu schenken", ist der Tatbestand der Holocaust-Leugnung für mich erfüllt. Da gilt für mich auch keine Nachsicht mehr ob unscharfer, lavierender oder in Dauerkonjunktiv machender Formulierung.