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Von Lars



Peter Gingold ist tot.
Wir verlieren einen konsequenten Mitkämpfer, eine lebensbejahenden, bescheidenen, verständnisvollen und hervorragenden Menschen, Antifaschisten und Kommunisten.

Am meisten beeindruckte mich seine Fähigkeit, ausführlich, plastisch und realistisch zu berichten von den vielen Stationen seines Lebens. Man spürte sich förmlich dabei, war in den Bann gezogen - gerade auch, weil er die Details betonte, die Umstände vermittelte. Er konnte zuhören und sich in seine Zuhörer hineinversetzen. Das ist eine beachtliche und seltene Fähigkeit. Immer, wenn ich das betonen und meine Bewunderung ausdrücken wollte, winkte er ab, sprang im Gespräch zum Bericht über eine andere Person, die das selbstverständlich (und angeblich) viel besser konnte als er, nein, er hat nur so mal berichtet zwischendurch, nichts Besonderes. So kämpfte er zeitlebens immer den Umständen und der Situation entsprechend mit Waffe, Witz und/oder wohlgewählten Worten.
Ich habe auch keinen Redner erlebt, der bürgerliche Demokraten, ältere Antifaschisten und Autonome gleichzeitig zu hoher Aufmerksamkeit und Zustimmung bringt und dabei noch die Polizei beruhigt, so dass die geistig helleren Vertreter der Staatsmacht spürbar aufmerksam zuhören.

Einmal war ein Kollege unserer Gruppe in die Fänge der französischen Justiz geraten, vermutlich nicht ganz unschuldig, zumindest aber durch dummes Verhalten. Rote Hilfe und die ganze Trommel lief an, 14 Tage Zeit bis zur Verhandlung. Rufen wir mal Peter an. Als antifaschistischer Widerstandskämpfer in Frankreich war er unabhängig von seiner Nationalität auf Lebenszeit französischer Ehrensoldat und bekam von dort auch eine (wohl kleinere) Ehrenrente. Die ganzen Titel, Dienstgrad und Nummern dieser französischen Anerkennungsstellen (wie gesagt, er war nicht in der Armee, sondern zu der Zeit illegaler Widerstandskämpfer der französischen Resistance - diese wurden in Frankreich nach dem Sieg als Ehrensoldaten anerkannt) aufgeschrieben und noch ein paar nette Worte, dass das mit dem jungen Mann ja wohl ein Irrtum sein muss und sie ihn doch bitte laufen lassen möchten, wurde zum Gericht gefaxt. Ob das ausschlaggebend war für den Freispruch weiß ich nicht, sehr großzügig formuliert war es auf jeden Fall. Peter hat nie wieder danach gefragt, was genau gewesen ist und wer nun Recht hatte, das war ihm egal. ihm war es wichtig jemand aus dem Knast zu holen, zu oft hatte er selbst Unrecht und reaktionäre staatliche Verfolgung erlebt.

Immer wieder kamen Dinge durch, die vermutlich in der Illegalität entstanden waren, Verhaltensweisen, die intuitiv geworden waren. Mehrfach habe ich mit Aufmerksamkeit und Schadenfreude mitbekommen, wie er die Deutsche Bahn übers Ohr gehauen hat. Setzt sich eben gerade erst hin, da kommt der Schaffner, "noch zugestiegen?" usw.. Einmal tat er unbeteiligt, einmal begann er ein wildes Gespräch, in jedem Falle hat es immer geklappt. Für den Notfall (auch das gehörte wohl dazu) hatte er immer einige Fahrkarten in der Tasche, die gerade abgelaufen oder erst in eine Richtung benutzt waren, die waren für die nächste Tour noch gut. So war es ihm immer ein Anliegen für seine politische Organisation möglichst noch ein bißchen Geld zu sparen.

Bescheiden war er und schelmisch oft geradezu. Nicht verbittert, obwohl er allen Grund gehabt hätte. Praktisch seine ganze Familie wurde in Auschwitz ausgerottet, ihr Kind haben seine Frau und er zeitweilig während des Widerstandes weggegeben, um es zu schützen und viele andere Entbehrungen hatte er erlebt. Er berichtete wie sie nachts gemeinsam Aktionen durchführten, während das Kind allein zuhause schlief. Was ist, wenn wir verhaftet werden? Aus seinem Gesicht sprach auch später immer noch die Antwort auf solche Fragen: Seid optimistisch, schaut nach vorne, mir passiert nichts, macht euch nicht soviele Gedanken ihr jungen Leute, es gibt immer eine Lösung! Das war sein Lebensmotto. Und so stellte er sich auch im hohen Alter noch den Faschisten persönlich in den Weg. Öfters soll es auch in den letzten Jahren noch passiert sein, dass ihn jemand vom Bahnhof zu einer antifaschistischen Veranstaltung abholen wollte und ihn nicht antraf, sorgenvoll zu den Veranstaltern zurückkam. Peter war aber schon da, war zwischenzeitlich mit dem Fahrrad angeradelt...

Peter war Kämpfer für ein befreites Land, für Antifaschismus und gegen Kapitalismus. Dass Land, in dem er viel von diesen Zielen verwirklicht sah, war die DDR. Auch dafür kämpfte er, wurde erneut verfolgt und erntete nicht immer Zuspruch. Wie er mir berichtete, war seine Verbindung zur DDR darauf aufgebaut, dass er französische Jazzplatten dorthin exportierte. Als ich näher nachfragte hatte ich das deutliche Gefühl, er weiß von französischen Jazz ungefähr soviel wie ich. Die ganze Wahrheit kam irgendwie selten heraus bei ihm. Die musste man schon verstehen, durch Zuhören begreifen und sich selbst zusammensetzen. Denk selber! war seine unausgesprochene Aufforderung. Und dabei hörte er selbst nie auf zu lernen. Mit über 80 Jahren erlernte er die Funktionen des PC, nutzte dieses Medium vor allem, um per eMail Kontakte zu pflegen, Informationen zu verbreiten und erreichbar zu sein.

Er forderte auf zur Auseinandersetzung und Aktivität durch seine Persönlichkeit, sein Handeln. Trotzdem er sein ganzes Leben der fortschrittlichen Sache verschrieben hat, wäre er nie auf die Idee gekommen, dies auch von anderen so zu erwarten. Jeder an seinem Platz, jeden Tag im Rahmen seiner Möglichkeiten und Fähigkeiten gegen Faschismus, Rassismus und Ungerechtigkeit. Das war seine Aufforderung. Aufgrund seiner Bescheidenheit hätte er sich jedoch nie zum Maßstab für andere gemacht, dieser Gedanke war ihm fremd.

In diesem Sinne gedenken und trauern wir um einem ehrenvollen, antifaschistischen Widerstandskämpfer, einem offenen, freundlichen und optimistischen Menschen von dem wir viel lernen konnten. Wozu er uns auffordert ohne es von uns zu erwarten, dürfte klar geworden sein.

Lieber Peter, wir werden Dich nicht vergessen, danken für die Zeit, die Du für uns hattest und werden versuchen, die Lücke, die Du hinterlässt, zumindest ein bißchen kleiner werden zu lassen. Wir wissen, dies wäre Dir die größte Freude, wo Du jetzt leider nicht mehr unter uns sein kannst.

Lars und Redaktionskollektiv www.secarts.org

 
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  Kommentar zum Artikel von 127757:
Sonntag, 05.11.2006 - 15:15

...ein bewegender Nachruf auf einen großen Menschen!
Die Zeitzeugen, die den antifaschistischen Widerstand selbst erlebten und daran beteiligt waren, werden leider immer weniger. Umso wichtiger, ihr Andenken und ihre Lehren wach zu halten!


  Kommentar zum Artikel von paulina:
Mittwoch, 01.11.2006 - 15:20

lieber lars, da hast du einen ganz wunderbaren "nachruf" geschrieben! sehr bewegend!


  Kommentar zum Artikel von secarts:
Mittwoch, 01.11.2006 - 01:47

8. März 1916 - 28. Oktober 2006
Zum Tod von Peter Gingold


Mit Peter Gingold starb der letzte große Frankfurter. Die »drei großen Frankfurter«, das sind – aus unserer Perspektive – Emil Carlebach, Willy Schmidt und Peter Gingold. Emil Carlebach, Mitglied des Kommunistischen Jugendverband Deutschlands (KJVD), Buchenwald-Häftling und natürlich als Gründungsmitglied der Frankfurter Rundschau bekannt. Willy Schmidt – der Schriftsetzer aus Duisburg – ebenfalls Mitglied im KJVD, der sich während seiner Inhaftierung im KZ Buchenwald maßgeblich an dem Widerstand gegen die SS beteiligte, der am 11. April 1945 zur Selbstbefreiung der KZ-Häftlinge führte und natürlich Peter Gingold, der – als Résistance-Kämpfer – Teil der französischen Widerstandsbewegung war und im August 1944 Paris von den Deutschen Besatzern befreite. Im Rahmen der Jugendarbeit, für Diskussionsveranstaltungen oder zu Gesprächen in Schulen kamen Peter Gingold, Willy Schmidt oder Emil Carlebach regelmäßig nach Göttingen.

»Das ist meine Tür« sagte Peter Gingold und zeigte auf die Abbildung einer Tür, die für uns nur irgendwo in Frankreich war. Für Peter Gingold bedeutete sie das Tor zur Freiheit. Im Zuge seiner Résistance-Aktivitäten von den Nazis verhaftet und gefoltert, ließ er sich in seiner unnachahmlichen Art die Geschichte entlocken, er könne den Nazis weitere Mitglieder der französischen Widerstandsbewegung zuführen, er müsse dafür nur zu einem Treffpunkt an einen bestimmten Ort kommen. Wenn man sehe, dass er allein sei, würden sich die Kontaktleute zu erkennen geben. So ließen ihn die Nazis, zwar bedrohlich nah – aber mit dem lebensrettenden Abstand – vorgehen, bis Peter Gingold vor einer Tür stand. Nur er allein wusste im Vorfeld, dass diese Tür nur von innen zu öffnen war, außen dagegen nur einen Türknauf ohne Klinke besaß. So schlug Peter Gingold den Nazis die Tür vor der Nase zu, floh durch Hinterhöfe, Wohnungen und über Dächer und wurde von der französischen Bevölkerung versteckt. Kurze Zeit später war Peter Gingold selbstverständlich wieder in der Résistance aktiv.

Unvergessen bleibt die Art und Weise, mit der Peter Gingold in die Runde recht junger Schülerinnen und Schüler blickte und fragte: »Na … auch schon mal was illegales gemacht? Kaugummis geklaut … ?«

Peter Gingold schaffte es sehr schnell Distanz zu verringern und ermunterte Fragen zu stellen. Für uns Jugendliche und junge Erwachsene sind Menschen wir Peter Gingold, Willy Schmidt oder Emil Carlebach so bedeutend, weil sie – anders als in den häufig verlogenen und selten ernst gemeinten Betroffenheitsbekundungen – keine so genannten »Zeitzeugen« waren, die »zwischen den Zeilen Widerstand leisteten« oder »von alledem nichts gewusst« hatten. Nein, sie haben wie alle Anderen alles gewusst und deshalb Widerstand geleistet. Sie waren keine Zeitzeugen, sie haben Geschichte gemacht! Ob in Gestapo-Haft, in Konzentrationslagern oder in »Freiheit«, sie leisteten aktiv Widerstand gegen das Naziregime und hatten nicht weniger zu verlieren als andere. In einer Broschüre, die wir anlässlich des 50. Jahrestags der Selbstbefreiung der Häftlinge des KZ Buchenwalds erstellten, druckten wir folgendes Gedicht des Buchenwaldhäftlings Bruno Apitz ab.

»Du hast von all dem nichts gewußt? Du konntest nichts dagegen tun? […] Wir haben nicht kapituliert und hatten nicht weniger zu verlieren als du! Wir haben alles hingegeben: Unsere Frauen und Kinder! Unser Heim und unsere Existenz! Freiheit und Gesundheit! Tausende unserer Besten gaben ihr Leben«.

Peter Gingold verlor seine ganze Familie. Sie wurde in Auschwitz ermordet.

Wir sind froh, Peter Gingold, Willy Schmidt und Emil Carlebach kennen gelernt zu haben. Zwar gibt es von ihnen und über sie Bücher, Filme oder aufgezeichnete Interviews, doch ihnen einmal selbst begegnet zu sein, bleibt unvergesslich und hat uns stark beeindruckt. Unabhängig davon, was jede Einzelne und jeder Einzelne von uns für Konsequenzen aus den Gesprächen und Diskussionen mit Peter Gingold, Willy Schmidt oder Emil Carlebach ziehen wird: Ihr wart keine Zeitzeugen, ihr habt Geschichte gemacht!

Naturfreundejugend Göttingen im Oktober 2006