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Eine verbale Kapriole nach der anderen wird derzeit abgeschossen - die Betroffenheitswoche nach dem Wahldesaster in Mecklenburg-Vorpommern hält an. Den bürgerlichen Parteien ist zumindest für kurze Zeit klar geworden, dass in diesem Land irgendetwas passiert sein muss, das in seinen Dimensionen über das Vorangegangene hinausgeht: der "rechte Rand", traditionell von der CDU vereinnahmt, macht sich auf Dauer selbständig. Mit dem Einkauf einzelner Abgeordneter, der Korrumpierung einiger "Köpfe" der NPD oder dem Boykott von Landtagsauftritten der Faschisten ist es nicht mehr getan: die NPD hat keine punktuellen Landtagswahlerfolge gelandet, sondern auf Landtagsebene nachgezogen, was kommunal längst schon Realität ist. Die Faschisten kommen - und holen sich Prozente um Prozente, die sie nicht wieder hergeben wollen. Neben dem parlamentarischen Arm toben sich "freie Kameradschaften" als freiwillige oder verdingte Schlägerbanden aus; die Mischung erinnert an die NSDAP mit der SA als Terrorinstrument - nicht 1933, aber 1926. Unsere Geschichte illustriert, wie schnell solche Entwicklungen gehen können - und wohin sie führen.

Was wäre da naheliegender, als dem Spuk zunächst juristisch ein Ende zu setzen? Natürlich wird durch ein Parteiverbot kein einziger Faschist zum Antifaschisten - nichts anderes könnte aber der Anfang sein für alle weitergehenden Maßnahmen, den Sumpf trockenzulegen. Oder, um es in der Sprache des Juristen auszudrücken: Straftäter gehören bestraft; die Rehabilitation kann danach kommen. Umgekehrt läuft es nicht.
Das Problem liegt weniger an fehlenden Gesetzen: die sind da, sogar im Grundgesetz, mit der Übernahme des Potsdamer Abkommens, dass alle NS-Nachfolgeorganisationen verbietet. Das steht im Paragraphen 139 GG "Fortgeltung der Entnazifizierungsvorschriften". Jedes Schulkind sollte den gelesen haben.

Und irgendwie scheinen sich zumindest verbal auch alle einig zu sein, dass eine Partei, deren erkärtes Ziel die "Überwindung des Systems" hin zu einer faschistischen Diktatur ist, verboten gehört. Das Ausland beginnt hellhörig zu werden; es sind nicht mehr nur "linke Zecken" oder "Wirtschaftsflüchtlinge", die von der NPD und ihren Kohorten attackiert werden, sondern längst schon Politiker bis weit ins bürgerlicher Lager hinein, die sich mit physischen Attacken herumzuschlagen haben. In vielen ländlichen Gebieten der BRD ist die NPD ein Faktor; in einigen gar die einzige noch wahrnehmbare politische Kraft. Im Berliner Wahlkampf grifffen die Faschisten zum ersten Mal zum organisierten, flächendeckenden Mittel der Versammlungssprengung - bei SPD-Wahlkampfveranstaltungen. In deutschen Parlamenten toben sie sich ungestraft aus - und werben ihrerseits "Stimmvieh" aus den bürgerlich-demokratischen Parteien an, wie es im sächsischen Landtag mehrfach geschah. Höchste Zeit, juristisch einzugreifen, wenn die traditionellen Mittel versagen.

Von Thierse bis Schäuble reden alle wieder vom möglichen NPD-Verbot und wollen "Erfolgschancen ausloten".
Und hier liegt des Pudels Kern: nach dem NPD-Sieg beim ersten Verbotsverfahren im Jahre 2003 vor dem Bundesverfassungsgericht ist die faschistische Partei unverbietbar geworden. Damals strengte die rot-grüne Regierung ein Verbotsverfahren an; die Verhandlung wurde allerdings abgebrochen, bevor auch nur ein einziger Zeuge zur Sache vernommen werden oder ein einziges Zitat von der braunen Spitzenmannschaft untersucht werden konnte - die Begründung des Verfassungsgerichts lautete, dass die NPD von dermaßen vielen Verfassungsschutzspitzeln durchsetzt sei, dass nicht unterscheiden werden könne, welche Äußerungen nun von "echten Rechten" oder Staatsbeamten als V-Männern getätigt wurden.

Man mag von dieser Argumentation halten, was man will - es ist eine enthüllende Benkrotterklärung für die bürgerliche Demokratie. Die V-Männer sollten die NPD auf Verfassungsfeindlichkeit (u. U. zum Zwecke eines Verbots) untersuchen und stellen mittlerweile jedes siebte (!) Mitglied dieser Partei. Mehr noch: die Argumentation des Verfassungsgerichts legt nahe, dass es nicht zuletzt NPD-Mitglieder auf Lohnlisten des Staates seien, die die rechtsradikale Propaganda schüren - der Staat prozessiert also gegen sich selbst, gegen eine "Filliale" des Verfassungsschutzes, des Inlandsgeheimdienstes der BRD.
Jedes neue Verbotsverfahren werde an der gleichen Hürde scheitern, an dem der Versuch von 2003 endete, wenn der Verfassungschutz seine Praxis nicht ändere, schlußfolgert Matthias Gebauer in SPIEGEL Online. Nur ein Abzug aller Spitzel aus der NPD und die Einstellung der Unterwanderung, obwohl "die Zahl der Verfassungsschutz-Informanten in der NPD-Szene wächst", könnte ein neues Verfahren mit Erfolgschancen ermöglichen - "Fernziel ein Verbotsverfahren im Jahr 2010".
Davor wiederum verweigert sich der Verfassungsschutz: "Darauf könnte sich schon wegen der Dienstvorschriften wohl kein Behördenleiter einlassen", sagt der beim ersten Verfahren federführende Verfassungsrechtler Bull. "Ein Verbotsverfahren hat im Moment so gut wie keine Chancen auf einen Erfolg".

Das ist ein ehrliches Wort: Der Staat hat eine faschistische Partei durch gezielte Unterwanderung unverbietbar gemacht; mehr noch: er hat, so argumentiert des Verfassungsgericht, viele der faschistischen Tätigkeiten anscheinend erst ermöglicht. Und eine Änderung dieser Praxis ist nicht in Sicht: "Trotzdem wäre die Beendigung der Beobachtung fast unverantwortlich, denn die Militanten im NPD-Umfeld könnten plötzlich frei agieren und müssten sich nicht mehr vor Beobachtung fürchten".

Die Frage ist zunächst, ob die NPD den Verfassungsschutz tatsächlich "fürchtet", oder ob die Massenunterwanderung nicht auch von Seiten der Faschisten zum abgekarterten Spiel geworden ist: NPDler verdingen sich als V-Leute, bekommen dafür Staatsknete und juristische Freibriefe. Der Verfassungsschutz infiltriert die NPD, pumpt Geld, Logistik und Mitglieder in die Partei und erhält irgendwelche ominösen "Informationen".
Was allerdings die Tätigkeit der Verfassungsschutzes in der NPD bisher Positives brachte, wäre separat erfahrenswert: seit der Unterwanderung der Partei ist die NPD vom muffigen Altherrenklub zur schlagkräftigen Randalepartei mit parlamentarischer Verankerung in derzeit zwei Landesparlamenten und ungezählten Kommunalparlamenten geworden. Nichts, aber auch gar nichts konnte oder wollte der Verfassungschutz verhindern - man müsste eher nach der Höhe seiner Mitschuld an diesem Erfolg fragen.

Fassen wir zusammen: ob und wann die Staatsmacht und ihre Gerichte bereit sind, die NPD zu verbieten, hängt kaum vom Goodwill stellvertretender Bundestagspräsidenten ab, sondern nur von dem Druck, der von unten auf den Staat ausgeübt wird. Verfassungsgesetze genießen Vorrang; dort ist das Verbot eindeutig geregelt. Wenn es so ist, dass die NPD und der Verfassungsschutz nicht mehr klar zu trennen sind, weil in vielen Bereichen längst "Personalunion" herrscht, gehören schlicht beide verboten und aufgelöst.

Und machen wir uns nichts vor: ein juristisches Verbot aller faschistischer Organisationen kann nur der Anfang sein, denn weder Nazis noch faschistische Tendenzen verschwinden durch Partei- und Gruppenverbote. Sie werden neue Kanäle finden; einerseits im Untergrund, andererseits in legalen Strukturen. Und mit Verfolgung der Straßen- und Stiefelnazis kann nur der gewalttätige Arm der faschistischen Bewegung zerschlagen werden; die Herren, Köpfe und Geldgeber sitzen ganz woanders; und zwar an so hohen Stellen, dass es im Rahmen dieser Gesellschaftsordnung niemals möglich sein wird, faschistische Optionen auf Dauer zu verhindern - Kapitalismus geht immer mit Faschismus schwanger. Diese grundsätzliche Einsicht zum Vorwand zu nehmen, in Fatalismus zu verfallen oder den bürgerlich-demokratischen Kampf gegen faschistische Umtriebe einzustellen, ist aber irrig und gefährlich - selbstverständlich kann man auch im Rahmen der bürgerlichen Demokratie gegen faschistische Organisationen und Strukturen vorgehen - oder, um beim Zitat zu bleiben: es kann auch eine Fehlgeburt geben. Widerstand bleibt Pflicht, wenn die Lehren der Geschichte beherzigt werden sollen. Verteidigung der bürgerlichen Demokratie gegen die Vertreter der offen bürgerlichen Diktatur - und nichts anderes ist Faschismus - ist nur die halbe Miete, doch ohne ihre Vorarbeit wird jedoch nichts weitergehendes gelingen.

Und man kann nicht nur, man muss Widerstand leisten. Wenn sich die höchsten Richter des Landes weigern, Grundgesetzen Geltung zu verschaffen; wenn staatliche Behörden faschistische Parteien teilfinanzieren und gezielt mit Mitgliedern versorgen; wenn Mordbanden mit den Zielen von Vorgestern wieder offen operieren und terrorisieren können, ohne dass die Staatsmacht eingreift, tritt ebenfalls bürgerlich-demokratisches Recht in Kraft, nämlich Artikel 20 (4) GG: "Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung ["Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat", Art. 20 (1)] zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist."

 
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