Der lange Sommer der deutschen Normalisierungen geht nicht synchron zur Wetterentwicklung - nach dem nationalen Taumel der WM, der Enttabuisierung der ersten zwei Strophen der Nationalhymne, der Etablierung der Nationalflagge im Alltagsbild - nun also auch wieder deutsche Normalität im zweiten Landesparlament der Republik. Die NPD zieht mit 7,3 % in Mecklenburg-Vorpommern ein. Hurra, endlich normal? "Der Führer", schmachtet NPD-Spitzenkandidat Udo Pastörs nach Bekanntgabe der vorläufigen Wahlergebnisse, sei ein militärisches, soziales und ökonomisches Phänomen gewesen: "Er hat ja wahnsinnige Pflöcke eingerammt auf fast allen Gebieten". Auch das geht jetzt wieder: Adolf Hitler loben, vor der versammelten TV-Nation. 60 Jahre lang war das "unnormal". Genauso unnormal, wie "Deutschland, Deutschland über alles" zu gröhlen, genauso unnormal, wie mit erigierten Fahnen zu kompensieren, wo Mutter Natur an anderer Stelle allzu ungnädig war. Da ist nichts mehr dabei, wenn wir jetzt auch so richtig locker, unverkrampft und positiv auf unsere Nation und ihre Geschichte Bezug nehmen - ein neuer, exhibitionistischer Bekenntnisdrang macht sich breit; die Volksgemeinschaft sondert wieder Fremdkörper aus. Die falsche Lieblingsmannschaft, die falsche Frisur, die falschen Gedanken, die falsche Abstammung.
Wieder "normal" sind seit der Sachsen-Wahl, die noch als peinlicher Ausrutscher abgetan wurde, spätestens aber seit der Wahl in Mecklenburg-Vorpommern, wo sich der "peinliche Ausrutscher" wiederholte, Faschisten in deutschen Parlamenten - einst stellten sie dort oftmals Mehrheitsfraktionen. Das Hauptparlament haben sie 1933 angezündet, um damit den Beginn der Vernichtungsjagd auf Kommunisten, Sozialdemokraten, bürgerliche Demokraten, verantwortungsbewußte Christen aus anderen Parteien und Fraktionen einzuläuten. Und damit den Weg freizuräumen für den nächsten Weltkrieg und den Holocaust an Juden, Sinti, Roma, "Fremdvölkischen" und "Untermenschen". Angefangen hatten auch die Vorläufer der heutigen Faschisten mit sozialer Demagogie, "Brechung der Zinsknechtschaft", Kampf gegen "Überfremdung", "Bolschewismus" und "Plutokratie nach US-Vorbild". Ihre Wiedergänger im Jahr 2006 geben sich bieder, bürgerlich und gezähmt - solange die Kamera hinschaut.
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© by Ernst Thormann |
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1930: SA demonstriert unter Polizeischutz |
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Der "Kampf um die Straße", von der NPD zu einem der Hauptziele erklärt, haben die biederen Herren, die ohne Kamera erst richtig loslegen, vielerorts bereits gewonnen - in den "No-Go-Areas" in deutschen Großstädten, die für alle anders aussehenden Menschen lebensgefährlich geworden sind. In den entzivilisierten Landstrichen in Ostdeutschland, wo Arbeitsplätze, Jugendbetreuung, soziale Zusammenhänge und gesellschaftliche Verankerung abgezogen sind und nur die Plattenbauten bleiben.
Wo der Kampf um die Straße noch nicht gewonnen ist, gibt der Staat Amtshilfe: mit Polizeiarmeen, die den Faschisten unter die Arme greifen, wenn die eigene Stärke nicht ausreicht und sie ohne diese Unterstützung aus den Städten getrieben würden. Vorsatz, böser Wille oder Ignoranz - das Resultat ist das gleiche: "national befreite Zonen" folgen auf "polizeilich national befreite Zonen". Und nach und nach wird Deutschland zur "No-Go-Area".
Die bürgerlichen Parteien haben versagt, und zwar auf ganzer Linie. Sie wollten - und konnten - nicht verhindern, dass soziale Realitäten entstehen, in denen Faschisten ihren Nährboden finden: Massenarbeitslosigkeit, Wegbrechen sozialer Netze, Jugendarmut, Perspektivlosigkeit. Sie können nicht verhindern, dass braune Rattenfänger abfischen, was durch die neue kapitalistische Normalität an die Ränder Gesellschaft gespült wird: Jugendliche vor allem, tendenziell eher in Ostdeutschland, tendenziell arbeitslos oder gering beschäftigt und männlich. Doch diese Zahlen alleine reichen nicht aus: 10% fuhr die NPD im mecklenburg-vorpommerschen Mittelstand ein. Neben den üblichen Protestwählern, die links nichts mehr finden können außer kleinen und großen Sozialdemokratien, gibt es dort längst kommunale Strukturen und Stammwählerpotential.
Wenn ein
Jürgen Elsässer in der Jungen Welt meint, "die Leute wählen die rechten Demagogen nicht weil, sondern obwohl sie Nazis sind", täuscht er sich gewaltig - und mit ihm die ganze bürgerliche Bagage, die zwischen Entsetzen und Schönreden taumelt und spätestens eine Woche nach der Wahl das ganze Problem wieder in "Akte X - ungelöste Fälle" ablegt. Mit menschlicher Dummheit oder fehlenden linken Alternativen zu erklären, dass Menschen für Faschisten stimmen, geht fatal am Kern vorbei: enttäuschte Linkswähler, das beweisen alle Statistiken, greifen tendenziell eher zum (sinnlosen) Protestmittel Wahlboykott; die wenigsten gehen zur NPD, weil die "soziale Parolen" aufgreifen. Die NPD kann von einem nicht großen, aber spürbar vorhandenen faschistoiden Bodensatz schöpfen - einem Acker, der auch von Teilen der Linken mit bestellt wurde und der nun Früchte trägt. Die Schnittstellen sind da, die Querfront arbeitet auf ganzer Linie: von halbherziger "Globalisierungs"-Kritik anstelle konsequenter Kapitalismuskritik, von Antiamerikanismus anstelle des notwendigen Kampfes gegen die eigene Bourgeoisie und von alter deutscher Großmannssucht (Fischers und Schröders "deutscher Weg") anstelle grundsätzlicher Analyse der Interessen des deutschen Imperialismus können die sozialen Demagogen der NPD oftmals nahtlos in ihrer Propaganda anschließen.
Nein, nicht die Linke ist schuld am Erfolg der Rechten, auch das wäre simplifizierend. Die Aufgabe der Linken muss in sauberer Analyse, in Vermeiden aller Stammtischparolen, in klarer Benennung des Hauptfeindes und den daraus zu entwickelnden Resultaten liegen. Wenn dies geleistet würde, hätten es die Faschisten schwerer - und die Antifaschisten leichter.
Und gleichzeitig wird, auch das übersieht Herr Elsässer, der Widerspruch zugespitzt, wenn eine radikalsozialistische, revolutionäre, gar kommunistische Arbeiterbewegung auf den Plan tritt: die faschistische Option bedeutet mehr als das Kanalisieren von Protestwählerpotential; sie ist eine grundsätzliche Herrschaftsoption des Kapitalismus: der Klassenkampf im Inneren wird mit Gewalt niedergehalten, um nach außen aggressiv sein zu können. Eine starke und konsequente Linke, die mit Klassenkampf die Weltmachtsambitionen des Imperialismus zu stören droht, wird sich also noch weit mehr mit Faschisten rumzuschlagen haben, als dies heute der Fall ist. Unser großes Dilemma besteht darin, dass die Faschisten schon da sind und erstarken, die linke Gegenkraft jedoch weitestgehend fehlt - oder in "Bush-Bashing", "Sachzwang"-Regierungspolitik oder "Globalisierungs"-Kritik macht, anstelle die Probleme im Land beim Namen zu nennen und anzupacken. Zu diesen Problemen gehört zuvorderst der erstarkende Faschismus. Wenn erst der alltägliche Abwehrkampf gegen die Nazis vor der Haustür, die Verteidigung des schlichten Überlebens gegen braune Mordschwadrone wieder "normal" ist, bleibt keine Zeit mehr, sich über Sozialpolitik oder Kriegseinsätze den Kopf zu zerbrechen. Politik machen hört da auf, wo nacktes Überleben beginnt.
Einige Radikalkuren wird man in Betracht ziehen müssen. Der Kampf gegen den Faschismus beginnt dort, wo Faschisten auftreten. Und der Kampf gegen den Faschismus muss auf breiter Front geführt werden:
- zunächst einmal bedeutet dies, mit allem Nachdruck die Anwendung längst vorhandener Gesetze einzufordern: Verbot aller faschistischer Organisationen. Kriminalitätsbekämpfung durch "demokratischen Diskurs" verharmlost das Problem - Kriminelle müssen als Kriminelle behandelt werden.
- "Enttabuisieren" (Ringstorff), Boykottieren oder Ignorieren schadet den Faschisten nicht. Auch aus der Schmuddelecke können satte Mehrheiten eingefahren werden. Offensives Entgegentreten beginnt nicht im Parlament, sondern auf der Straße: wo kriminelle Mordbanden ungestraft operieren können, ist Gegenwehr gefordert. Wo die Staatsmacht nicht willens ist, dies zu leisten, ist Selbstverteidigung Bürgerpflicht.
- desweiteren ist eine starke Linke gefordert: Reformismus wird vom Wähler abgestraft; dies beweisen die beiden Wahlen vom Wochenende. Wo soziale Perspektivlosigkeit herrscht, werden sich die Realitäten die Parteien schaffen, die benötigt werden. Es liegt an uns, dabei zu sein oder staunend zuzuschauen.
Nennen wir es beim Namen: Faschismus ist keine historische Erscheinung, die auf den Seiten 45 bis 87 der Geschichtsbücher abgeschlossen ist. Die deutsche Normalisierung setzt genau dort an, wo besiegt geglaubte Geister wieder hervorkriechen: Nationalismus, neues "Selbstbewußtsein", Enttabuisierung der Formen und Rituale, die zweimal ins Verderben von welthistorischem Ausmaß führten. Wer über die "Auschwitzkeule" klagt und die deutsche Geschichte in den Reigen der "europäischen Erinnerungskultur" - Opfer und Täter hüben wie drüben - einreihen will, wer "unverkrampften Umgang" mit den Verbrechen und Verbrechern von gestern einfordert, darf sich nicht über heutige Hitler-Lobreden im Fernsehen wundern.
Die neuen Realitäten, der neue, "entkrampfte" Nationalismus, machen noch keinen neuen Faschismus. Sie schaffen aber die notwendigen Vorbedingungen, die Reaktivierung der Formen, Slogans und Parolen. Und schon da muss der antifaschistische Kampf ansetzen und klar benennen, das nichts "normal" daran ist, nach sechzig Jahren Schonfrist wieder voll aufzudrehen. Der letzte großangelegte Versuch der Deutschen, ihr Verhältnis zur Nation auszuloten, endete in Auschwitz und Stalingrad. An uns muss es liegen, dass die neuen Faschisten ihr Stalingrad erleben,
bevor sie ein zweites Auschwitz anzetteln können.