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Dass das österreichische Bildungssystem in einer tiefen Krise steckt, wird nicht erst durch Pisastudien und Universitätsrankings manifest. Der Hund liegt aber nicht in einer wie auch immer eingefärbten Bundesregierung begraben, sondern in der Funktionsweise des Kapitalismus selbst.

von Hanno Wisiak | Vorabdruck aus der rotcrowd #8, Juni 2006

Kapital muss akkumuliert werden, muss sich vermehren, um im Konkurrenzkampf bestehen zu können. War es der Nachkriegsökonomie der westlichen Staaten – gestützt durch Marshallplan und staatliche Förderung – trotz sozialer Zugeständnisse an das Gros der Lohnabhängigen möglich, satte Profite zu erzielen, so stellten sich in den Siebzigern die ersten krisenhaften Entwicklungen ein. Diesen Krisenerscheinungen folgten umfassende Maßnahmen im Bildungsbereich, um eine bessere, d.h. dem geänderten Entwicklungsniveau der Produktivkräfte entsprechende Koordination zwischen Produktion und Schule zu erreichen: Die moderne industrielle Großproduktion stellte neue Anforderungen. Dies wurde maßgeblich beeinflusst durch den „Sputnikschock“, der, ausgehend von den USA, zu grundlegenden Änderungsschritten im Bildungswesen führte.1 Die bildungspolitischen Errungenschaften der Siebzigerjahre fielen so schon bald den „Sparpaketen“ der SPÖ-ÖVP-Regierungen zum Opfer.
„Der staatsmonopolistische Kapitalismus hat, bedingt durch die strukturelle Überakkumulation von Kapital, eine spezifische Ausgestaltung erfahren, die an geänderten Strategien in der Kapitalanlage festzumachen ist. So ist unter anderem festzustellen, dass das Kapital zunehmend in Bereiche drängt, die bisher nicht oder zumindest nicht direkt der privat-monopolistischen Verfügung unterstellt waren.“2
Neben dem Kapitalexport in frühere sozialistische Länder – Stichwort EU-Osterweiterung – reißen sich die Konzerne ergo zunehmend auch den Bildungsbreich unter den Nagel. Nicht nur, dass in Schulen allerorts Plakatflächen hängen, um so das karge Budget der Schulen aufzubessern, um vielleicht zu gewährleisten, dass ausreichend Toilettenpapier vorhanden ist, auch auf Lehrinhalte und Forschungsziele der Universitäten wird direkter Zugriff hergestellt.

Die Dialektik von Verwertungslogik, Entdemokratisierung und Elitenbildung
Die durch die herrschende Bildungspolitik ausgehungerten Unis müssen, um den Forschungs- und Lehrbetrieb einigermaßen aufrecht erhalten zu können, in verstärktem Ausmaß sog. Drittmittel lukrieren. Da aber der Profitlogik gehorchende Firmen nur in Bereiche „investieren“, die kurzfristige Gewinne oder „Wettbewerbsvorteile“ versprechen, kommen v.a. geisteswissenschaftliche Studienrichtungen – „Orchideenfächer“, wie sie Finanzminister Grasser genannt hat – zunehmend in die Bredouille. Lehrbudgets und -angebote sinken, und letzten Endes drohen Institutszusammenlegungen oder -schließungen.
Mit den finanziellen Kürzungen geht die rapide Entdemokratisierung der Unis einher. Wurden bis zum Universitätsgesetz 2002 alle uni-relevanten Entscheidungen von gewählten VertreterInnen der Studierenden mitgefällt, so haben nun die – im wesentlichen aus Regierungs- und KapitalvertrerInnen zusammengesetzten – Uniräte das letzte Wort in den strategischen Ausrichtungen.
Zeitigte schon die Einführung der Studiengebühren einen wesentlichen Rückgang von Studierenden aus ArbeiterInnenfamilien, so bewirken die Zugangsbeschränkungen eine weitere Verschärfung dieser Situation, haben doch SchülerInnen aus sündteuren Privatschulen sehr viel mehr Chancen, die Aufnahmetests zu bestehen.
So werden die Universitäten in zunehmendem Ausmaß ein Hort von sich selbst reproduzierenden Eliten.

Europäische Standardisierung
Durch die EU-weite Durchsetzung von Bakkalaureatstudienplänen wird die Dauer der Studien verkürzt, indem Bildung auf Ausbildung reduziert wird. Würden die Lehrbudgets entsprechend angehoben und die Betreuungs- und inhaltlichen Standards damit erhöht, wäre ein wesentlicher Kritikpunkt entkräftet. Dennoch ist genau das Gegenteil der Fall. Die Umstellung der Curricula wird von den Unis dazu benutzt, den finanziellen Aufwand für Lehre weiter zurückzuschrauben.
Die Anrechenbarkeit von Lehrveranstaltungen im EU-Raum kann nur subjektiv und auf den ersten Blick als Fortschritt erachtet werden, was sogar die großbürgerliche deutsche Frankfurter Allgemeine Zeitung attestiert: „Die vielgepriesene Mobilität in Europa entspricht allenfalls politischen Wunschvorstellungen, nicht jedoch der Wirklichkeit.“3

Bildung ist eine Klassenfrage!
„Durch die verschärfte Konkurrenz um freie Ausbildungsplätze können sie [die UnternehmerInnen, Anm. hw] – nahezu ohne Gegenwehr – die Vergütung und die Qualität der Ausbildung weiter herunterschrauben: Ausbeutung ist angesagt, nicht Ausbildung.“4 Deshalb gilt es breite Bündnisse – Studierende, Lehrende und Allgemeinbedienstete, Eltern und SchülerInnen, Lehrlinge und Gewerkschaften – zu bilden, um diese Entwicklung zu bremsen und schließlich aufzuhalten und umzukehren.
Es wäre ein Trugschluss, auf einen Regierungswechsel zu vertrauen, der maximal universitätspolitische Augenauswischerei mit sich bringen kann. Auch eine etwaige rosa-grüne Regierung würde die Handlangerinnendienste für das Kapital wohl kaum zugunsten eines demokratischen und offenen Bildungssystems beenden. Es kann ganz nach Belieben gedreht und gewendet werden: Die Betroffenen müssen den Pinsel selbst in die Hand nehmen.


Anmerkungen:
1 Dies ist insofern wesentlich, als die intelligenten Kreise des Großkapitals sehr wohl auch heute über die strategische Bedeutung der Bildung Bescheid wissen.
2 Gerfried Tschinkel, Abschied von der Birnenpolitik – Zur weltweiten Privatisierung der Universitäten. In: UNITAT 2/2005
3 FAZ 22.08.2005
4 Thomas Lühr, Zwei Seiten einer Medaille. In: Marxistische Blätter 4/2006



Dieser Artikel wurde mit freundlicher Genehmigung von rotcrowd, Zeitung des Kommunistischen Studentenverbandes Graz/Österreich (KSV), als Vorabdruck zur Verfügung gestellt.

 
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  Kommentar zum Artikel von secarts:
Mittwoch, 20.09.2006 - 12:46

Mit der massiven Produktivkraftvernichtung hast du sicher recht. Der Zusammenhang ist aber dennoch vielfältiger, glaube ich...
In der UdSSR gelang es, trotz Verwüstung fast des ganzen hochindustrialisierten europäischen Teils und dem Tod von 20 Millionen Menschen, binnen 4 Jahre wieder auf den Stand zu kommen, zu dessen Erreichung vor dem Krieg 20 Jahre benötigt wurden - ein einmal erreichter industriell-technisch-wissenschaftlicher Stand ist anscheinend nicht ganz so einfach in "die Steinzeit zurückzubomben" und kann relativ schneller wieder erreicht werden, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Genau hier wirkt die Bewußtseinsfrage (wissenschaftliches und Bildungsniveau entscheidender Teile der Bevölkerung) wieder zurück auf die Seinsfrage (Stand der Industrie und Wissenschaft der Gesellschaft).

Ähnlich verhielt es sich, auch ohne Sozialismus, zumindest in der BRD - das sog. "Wirtschaftswunder" konnte 1) von nie requirieren Kriegsgewinnen schöpfen, 2) mit Hilfe der einstigen imperialistischen Konkurrenz angeheizt werden und 3) auf immer noch ausreichend vorhandene Fachkräfte zurückgreifen.
Das Anheben des Bildungsniveaus, das du ansprichst, kam denn auch in der BRD (in Österreich kann es ganz anders gewesen sein) erst rund 25 Jahre nach Kriegsende, als die Wirtschaft im Wesentlichen (natürlich mit Ausnahme der Rüstungssparten, das ging - noch - nicht) das Vorkriegsniveau wieder weit übertroffen hatte: mit den sozialliberalen Bildungsreformen Anfang der 70er Jahre. Bis in die Spätsechziger hatte sich weder im dreigliedrigen Schulsystem noch in den verknöcherten Universitätsstrukturen; aber auch im beruflichen Ausbildungssektor nichts bis kaum etwas verändert - die Gesellschaft war im Wesentlichen so undurchlässig (nach oben natürlich - Abstieg geht im Kapitalismus immer!) wie eh und je.

Die "guten Zeiten" des BRD-Bildungssystems hängen an folgenden Faktoren:
- Die sozialliberale Bildungsoffensive kann nicht ohne die sog. "neue Ostpolitik" zunächst der Großen Koalition, später der SPD-FDP-Regierung, also einer neuen Qualität in der Systemkonfrontation, gesehen werden - im direkten Vergleich sollte der Kapitalismus seine Überlegenheit über den Sozialismus beweisen. Eine Auseinandersetzung auf vielen Ebenen: industriell, naturwissenschaftlich, aber auch geisteswissenschaftlch.
- Was das marode BRD-Bildungssystem nicht aus eigener Kraft leisten konnte, wurde vorher im Wesentlichen aus abgeworbenen DDR-Bürgern bestritten, was die "Mauer" seit 1961 empfindlich behinderte (gutausgebildete Fachkräfte aus der DDR wurden mit regelrechten "Kopfprämien" eingekauft - die BRD sparte sich die komplette Ausbildung...). Die BRD befand sich also in vielen Sektoren plötzlich in der Not, weit mehr Menschen in Bereichen ausbilden zu müssen, als dies vorher jemals gemacht wurde.
- Ein weiterer Aspekt war die Erstarkung einer linken (kleinbürgerlichen), vorwiegend universitär verankerten Bewegung, der man ideologisch das Wasser abgraben bzw. in systemkonforme Bahnen lenken wollte.
Das führte zur Öffnung der Ventile, Ausbau des sog. "zweiten Bildungsweges" auf großem Niveau, Etablierung der "Massenunis" und so weiter - die 7 % Arbeiterkinder, die in den 70ern auf BRD-Unis studierten, waren und sind der auch danach nie wieder erreichte Spitzenwert.

Diese Faktoren sind nun nicht mehr gegeben - die BRD pendelt sich also auch in dieser Frage wieder auf "kapitalistisches Normalmaß" ein; die Bonbontüte wird eingepackt. Und das führt zu all den von dir gezogenen Schlußfolgerungen - darin stimme ich völlig mit dir überein.


  Kommentar zum Artikel von hw:
Mittwoch, 20.09.2006 - 08:51

Hier ein guter Artikel, den ich auch zitiert habe.


  Kommentar zum Artikel von hw:
Mittwoch, 20.09.2006 - 08:51

1. Um den wesentlichen Beweggrund hierfür zu nennen: Der Zweite Weltkrieg war die größte Produktivkraftvernichtung der Menschheitsgeschichte - nicht Millionen Menschen (die ja die Hauptproduktivkraft sind) sondern auch Industrien. Um wieder zu entwickelten kapitalistischen Staaten zu werden, war das Anheben des Bildungsniveaus unerlässlich.
Das ist es heute nicht mehr. Ausbildung statt Bildung scheint das Schlagwort zu sein. In Windeseile müssen "Fachkräfte", ich würde eher sagen FachidiotInnen, ausgebildet werden, damit die untereinander konkurrierenden kapitalistischen Staaten bei der raschen Produktivkraftentwicklung nicht hinterher hinken. (siehe .com-Boom, Implementieren von dreigliedrigen Studiengängen etc.) Hier offenbart sich wieder einmal die systemimmanente Kurzsichtigkeit des Kapitalismus.

2. Die Anmerkungen zu den Geisteswissenschaften von Genossen secarts kann ich nur unterstreichen.



  Kommentar zum Artikel von secarts:
Dienstag, 19.09.2006 - 13:54

"Diesen Krisenerscheinungen folgten umfassende Maßnahmen im Bildungsbereich, um eine bessere, d.h. dem geänderten Entwicklungsniveau der Produktivkräfte entsprechende Koordination zwischen Produktion und Schule zu erreichen: Die moderne industrielle Großproduktion stellte neue Anforderungen."

Das ist schon ein ganz wesentlicher Punkt:
bürgerliches Schul- und Ausbildungssystem oszilliert (gesetzmäßig) zwischen den zwei Polen
- die nötigen Fachkräfte zur Bedienung der Produktion und notwendigen Forschung für technischen Fortschritt gegenüber Mitkonkurrenten heranzuziehen und
- es mit der Bildung auch nicht zu übertreiben - denn gebildete Menschen fangen an, mißliebige Fragen zu stellen und nach Alternativen zu suchen.

Ganz ohne geht es also nicht; zuviel ist aber auch nicht gut. Dieses Dilemma ist systemimmanent. Potentielle Opfer dieser Art von Bildungspolitik sind natürlich die nicht unmittelbar produktiv ausbeutbaren Sparten, sprich Geisteswissenschaften. Nicht zuletzt die überlegene Konkurrenz durch die einstigen sozialistischen Staaten zwang auch den Kapitalismus, ganze Institute mit mehr Philosophie, Soziologie und Gesellschaftswissenschaften zu beschäftigen, als unbedingt nötig zur Herrschaftlegitimation. Der Zwang, Leute für die Marx-Exegese zu bezahlen, ist seit 1989 weg - und das haut jetzt, nicht nur in Österreich, voll rein.