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Bei den Wahlen zur belgischen Abge­ordnetenkammer im Mai dieses Jahres gelang es der belgischen Partei der Arbeit (PVDA/PTB)1, zwei Parla­mentssitze zu erobern sowie zwei wei­tere Sitze im wallonischen Regionalparlament und vier in der Vertretung für die Region Brüssel. Da stellt man sich als nicht gerade von Wahlerfolgen ver wöhnter deutscher Kommunist die Frage, was die belgischen Genossinnen und Genossen denn anders machen als wir. Und was ist das überhaupt für eine Partei?
Obwohl innerhalb der Vier-Partei- en-Koordination mit der KP der Nie­derlande, der KP Luxemburgs und der DKP schon lange gute Beziehungen zur PVDA bestehen, hat der Parteivor­stand der DKP erst im letzten Jahr nach ausführlicher Diskussion die Aufnahme von Parteibeziehungen zur PVDA be­schlossen.

Ihren Ursprung hat die PVDA näm­lich in einem vollkommen anderen Spektrum als die DKP. Sie entstammt der belgischen Studentenbewegung SVB, einer progressiven Strömung innerhalb des katholischen flämisch-nationalistischen Hochschulbundes an der Katholischen Universität Leuven.

Alle Macht Aan De Arbeiders

1970 zog der Kern des SVB zum Streik der Bergarbeiter in der Provinz Limburg und wurde dort unter dem Namen Mijn- werkersmacht (Bergarbeitermacht) ak­tiv. Fast zeitgleich entstand beim Streik bei Ford im nahen Genk ein ähnlicher Zusammenschluss unter dem Namen Arbeidersmacht. Das waren die ersten „wilden Streiks“ einer Serie, die anfangs der 70er Jahre große wie kleine Betrie­be lahm legte, oft ohne und wiederholt gegen die Gewerkschaften. Der Brü­ckenschlag zwischen Studenten- und Arbeiterbewegung hatte 1971 unter der Bezeichnung AMADA (Alle Macht Aan De Arbeiders) das Ziel, revolutionäre Arbeiterkomitees aufzubauen. Diese Bewegung verschiedener außerparla­mentarischer Gruppen betrachtete sich rasch als kommunistische Partei im Aufbau.
Zu den Gewerkschaften waren angesichts der Angriffe auf die Ge­werkschaftsvorstände die Beziehungen schlecht, AMADA warf ihnen vor, zu eng mit den Betriebsleitungen zusam­menzuarbeiten und bezeichnete Be­triebsräte schon mal als „Wachhunde der Bosse“. Das führte zu Unverein­barkeitsbeschlüssen mit AMADA-Aktivisten. Ab 1975 wurde die Haltung zu den Gewerkschaften zwar modifiziert, was aber noch keine aktive Mitarbeit in ihnen zur Folge hatte.
1971 entstanden auch die ersten Gruppenpraxen der Geneeskunde voor het Volk (Medizin für das Volk). Diese Arztpraxen wurden insbesondere in Arbeitervierteln aufgebaut – oft gegen den Widerstand politischer Gegner wie der Kommunistischen Partei Belgiens (KPB), als „Missionierungsarbeit“ ab­gewertet.
Innerhalb der kommunistischen Weltbewegung orientierte sich die PVDA an der KP Chinas, was die Be­ziehungen zur KP Belgiens belastete, der sie vorwarf, Verrat an den marxis­tisch-leninistischen Prinzipien zu üben. Die Politik der Wirtschaftsreformen in China ab 1978 unter Deng Xiaoping nach dem Tod Maos (1976) führte je­doch zu einer Neupositionierung der Partei und einem neuen Parteinamen.

Partei der Arbeit Belgiens – PVDA/PTB

1979 wurde auf einem Parteitag der Name Partij van de Arbeid van Belgie (PVDA) bzw. Parti du Travail de Belgique (PTB) angenommen. In dieser Periode lehnte die Partei noch den Par­lamentarismus, der dem Ziel der prole­tarischen Revolution entgegenstünde, als bürgerlich ab. Erst im Lauf der 90er Jahre wurde diese Haltung revidiert, die ersten Mandate errang die Par­tei bei den Kommunalwahlen im Jahr 2000. Bei der Parlamentswahl von 2003 reichte die PVDA unter dem Namen Resist eine gemeinsame Liste mit der Arabisch-Europäischen Liga (AEL) ein. RESIST forderte u. a. den Aufbau meh­rerer islamischer Konfessionsschulen, die der belgische Staat finanzieren soll­te.
Die Kombination linksradikaler Ten­denzen und des Bündnisses mit Isla­misten verschreckte die Wähler: Das Ergebnis war verheerend und ähnlich dann bei der Wahl zur Volksvertretung im selben Jahr. Darauf beendete die Par-tei die Zusammenarbeit mit der AEL. In den nächsten fünf Jahren korri­gierte die PVDA-Führung die Linie, die sie in die politische Isolation gebracht hatte. „Wir waren es gewohnt, immer an der Spitze einer jeden Bewegung zu sein. Damals begannen wir, uns auch mal umzudrehen und sahen, dass sich die Massen sehr weit hinter uns befan­den“, erinnerte sich eine Genossin der PVDA auf der Vier-Parteien-Konferenz zur Gewerkschaftspolitik 2011.

2008: Ein neuer Kurs

Auf dem 8. Parteitag im März 2008 wurde Peter Mertens zum Vorsitzen­den gewählt. Um die Partei zu „verbreitern“, erklärte er öffentlich, dass die PVDA den „belehrenden Finger“ und die „großen Theorien“ weglassen müsse, und kündigte die Neuausrich­tung der Partei an. In den Parteitags­dokumenten heißt es selbstkritisch: „Viele Arbeiter, Angestellte und Beam­te fanden sich nicht wieder in den ho­hen Anforderungen zum Beitritt und zur Mitarbeit. Einige arbeitende Men­schen haben sich von uns entfremdet, weil sie die Partei häufig als elitär, als eine Partei von „Supermenschen“ emp­fanden. Einfache Menschen mit ihren Schwächen und Stärken fanden sich nicht in einer Partei wieder, die sich zu sehr auf eine eingeschränkte Kader­gruppe ausrichtete (…)“.
Das neue Erscheinungsbild seiner Partei verdeutlichte Peter Mertens mit dem 2011 erschienenen Buch „Wie können sie es wagen?“, in dem er in lockerer, nicht „belehrender“ Weise seine Ansichten über „den Euro, die Krise und den großen Raubzug“ den Lesern mitteilte. Das Buch führte in Flandern über Monate die Bestseller­listen für Sachbücher an und war in vie­len TV-Sendungen Gesprächsthema.
Nach wie vor bezeichnet sich die PVDA jedoch als „kommunistische Partei dieser Zeit“ und betont: „Diese Partei ist ein Teil der internationalen kommunistischen Bewegung.“

Betriebsgruppen zentrale Orientierung

Die Linie zu den Gewerkschaften wurde revidiert. Nun wurden die Parteimitglie­der angehalten, in die Gewerkschaften einzutreten, sich dort zu organisieren, wo die Masse der Werktätigen organi­siert ist, sowohl in der sozialistischen ABVV als auch in der christlichen ACV, und mit den Kolleginnen und Kollegen zusammen zu kämpfen. Diese Politik be­ginnt Früchte zu tragen, verschiedene Gewerkschaftsführer treten inzwischen völlig selbstverständlich auf Veranstal­tungen der Partei auf. Und Mitglieder der PVDA haben inzwischen wichtige Funktionen in den Gewerkschaften, ohne sich mit ihrer Kritik an der Sozial­partnerschaft zurückzuhalten.

Dieser Einfluss konnte nur erreicht werden, weil die PVDA die Orientie­rung, sich in Betriebsgruppen zu organisieren, beibehalten hatte. Im Bericht an den 8. Parteitag von 2008 wird eine organisierte Betriebsarbeit in 45 Groß­betrieben und rund 75 weiteren Betrie­ben aufgeführt. Diese Position gelte es auszubauen, hieß es, die PVDA müsse eine feste Position unter den arbeiten­den Menschen gewinnen. Eine wichtige Voraussetzung dafür sei, neben der Ar­beit in den Betrieben, die „Umarmung der Gewerkschaften“.

Die PVDA beurteilt die Gewerk­schaften als wichtigste Massenorganisa­tion der Arbeiterklasse und als größtes antikapitalistisches Potenzial. Als Arbei­terpartei habe sie daher die Pflicht, die Gewerkschaften so stark wie möglich zu machen. Belgien hat einen hohen gewerkschaftlichen Organisationsgrad, 75 Prozent aller Werktätigen sind in ei­ner Gewerkschaft organisiert. Ein we­sentlicher Auftrag für die Betriebsgrup­pen der Partei sei die Zusammenarbeit mit Vertrauensleuten und aktiven Ge­werkschaftern in den Betrieben. „Die Gewerkschaft umarmen ist eine Sache der gesamten Partei. Wir spornen jedes Parteimitglied an, Mitglied der Gewerk­schaften zu werden. Wir wollen auch, dass alle Gruppen und Arbeitskreise sich umfassend mit der Gewerkschafts­arbeit befassen: die internationale Abtei­lung, Medizin für das Volk, die Jugend, Rechtanwälte usw.“ Diese Orientierung auf Betriebsgruppen ist ein entschei­dender Pluspunkt der PVDA.

Zusätzlich zu den Betriebsgruppen werden seit dem 8. Parteitag gezielt Gruppen in den Wohngebieten aufge­baut. Die schon er wähnten Gruppen­praxen der „Medizin für das Volk“ – elf sind es in ganz Belgien – arbeiten eng mit den lokalen Gruppen zusammen. Ihre 53 Ärzte, 50 Mitarbeiter und 72 Ehrenamtlichen behandeln ca. 25.000 Patienten pro Jahr, ohne Vorkasse, wie es sonst in Belgien üblich ist. Sie wer­den aber auch angehalten, Kontakt zu den Betriebsgruppen aufzunehmen und Untersuchungen zu berufsbedingten Krankheiten zu machen. Insgesamt ha­ben sie durch ihre Arbeit zu den Wahlerfolgen der Partei beigetragen.

Wahlerfolge

Eine völlige Neuorientierung gab es in der Frage der Beteiligung an den Wah­len, die nun als Chance betrachtet wer­den, der Bevölkerung die Argumente der Partei zu vermitteln, und das auch schon im Vorfeld, bei der Erarbeitung des Wahlprogramms. Die von der Par­tei befragten Menschen konnten sich für eine andere Gewichtung der Wahl­ziele aussprechen – eine neue Form von Wahlkampf, weit besser als bürgerliche Meinungsbildung.
Die Wahlergebnisse entwickelten sich darauf positiv. 2006 errang die PVDA landesweit 15 Mandate, eine Verdreifachung des Ergebnisses von 2000. Bei den Parlamentswahlen 2010 verbuchte die PVDA ein leichtes Plus von 0,4 Prozent (1,3 %). Und bei den Kommunalwahlen 2012 konnte sich die PVDA auf 52 Mandatsträger steigern. Die zentrale Forderung im Parlaments­wahlkampf 2014 war eine Kampagne für eine Millionärsabgabe.

Es gibt äußere Bedingungen, die sich von denen in der BRD stark un­terscheiden und die diese Entwicklung begünstigten. Zum einen herrscht in Belgien Wahlpflicht, was die Zahl der Protestwähler in die Höhe schnellen lässt. Sie können den Rechten, aber auch den Linken zugute kommen. Zum anderen gibt es in Belgien keine links­opportunistische Partei a la Partei Die Linke. Die alte KP Belgiens hat sich vor 25 Jahren entlang der Sprachgrenzen aufgeteilt; beide Teile sind Mitglied der EL. Die flämische KP hat sich aufgelöst, die wallonische PC ist relativ schwach, und Teile von ihr orientieren auf die Wahl der PVDA. Es gibt zwar Bestre­bungen der EL, die PC als Konkurrenz zur PVDA aufzubauen, doch bisher ist das nicht gelungen. So ist die PVDA die einzige marxistische Wahlalternative zur Sozialdemokratie. Um die „linken fortschrittlichen Stimmen“ nicht zu zer­splittern, hat 2009 die Antwerpener Par­teigruppe der KPB zur Wahl von Peter Mertens aufgerufen. Diese bemerkens­werte Entscheidung war für beide Par­teien ein Bruch mit der Vergangenheit, in der sie einen ziemlich verkrampften Umgang miteinander pflegten.

Wohin entwickelt sich die PVDA?

Wichtiger noch als die Wahlerfolge ist es, dass die Partei ihre Mitgliederzahl erheblich steigern konnte. Eine Statutenänderung führte zu einer „Mitglied­schaft auf drei unterschiedlichen Ni­veaus und Formen der Mitgliedschaft“, die die Annäherung an die Partei leich­ter machte. Der innere Kern sind die so genannten Militanten: Sie sind marxis­tisch-leninistisch geschult und können ihre ganze Kraft für den Aufbau der Partei einsetzen, sie sind freigestellt. Um diesen Kern herum befinden sich die Mitglieder der Basisgruppen. Sie haben eine politische Grundlagenschu­lung absolviert und setzen sich für die Partei in der Regel neben ihrem Be­ruf ein. Als äußere Schicht gelten die „beratenden Mitglieder“. Sie nehmen viermal im Jahr an einer Versammlung teil, um die Politik der Partei nach au­ßen vertreten zu können, und zahlen 20 Euro Mitgliedsbeitrag im Jahr. Aus dieser dritten Schicht rekrutieren sich die Kandidaten für die Basisgruppen, wobei die Grundlagenschulung eine Voraussetzung dafür ist.
Der Mitgliederzuwachs stellt die Partei aber auch vor schwierige Prob­leme. Noch tummeln sich die meisten der 4000 neuen Mitglieder in der „Rand­gruppe“ der Partei, und so manche öf­fentlichen Diskussionen klingen nicht sehr revolutionär. Aber der „militante“ Kern und die Basisgruppen bilden sich auf dem Boden der Lehren von Marx und Lenin fort. Ihr Ziel ist es, die Partei für die Herausforderungen dieses Jahr­hunderts fit zu machen. Zur Zeit sind sie mit ihrer Herangehensweise allemal erfolgreicher als in früheren Zeiten, als sie jede Demo mit riesigen Transparen­ten von Marx, Lenin, Stalin und Mao beherrschten.

Die Besorgnis einiger Genossen, die PVDA sei auf dem Weg in den Re­visionismus, ist mit solchen Forderun­gen wie der Millionärssteuer – die auch von Parteien wie der KPÖ oder der Linkspartei vertreten wird – sicherlich nicht zu begründen. Die gute Zusam­menarbeit mit sozialpartnerschaftli­chen Gewerkschaftsführungen ist da schon bedenklicher. Aber die Gefahr wird von der PVDA-Führung selbst ge­sehen, und sie arbeitet ihr entgegen.

In nicht-revolutionären Zeiten er­fordert die Verbindung zwischen der Ideologie des Marxismus-Leninismus und massenwirksamer Praxis hohe taktische Flexibilität und Kreativität der Kommunisten – auch bei uns. Die PVDA ist auf dem Weg.


Anmerkungen zum Autor:
* Marcel de Jong ist Mitglied der Inter­nationalen Kommission und einer der Vertreter der DKP bei der Vier-Parteien­Koordination von PVDA, DKP, KPL und NCPN

Quellen und Anmerkungen:
1 Belgien ist ein Land mit zwei offiziellen Hauptsprachen: Niederländisch im flämi­schen Landesteil und Französisch im wal­lonischen Teil, die Hauptstadt Brüssel ist offiziell zweisprachig. Die Partei der Arbeit als unitäre, im ganzen Land ver­tretene Partei hat daher auch zwei Na­men und zwei Abkürzungen. Als Nieder­ländisch Sprechender habe ich durch­gängig die niederländische Abkürzung verwendet, andere mögen das anders halten. Die Partei der Arbeit kürzt sich auf Niederländisch PVDA oder pvda ab, auf keinen Fall aber „PvdA“, denn dabei handelt es sich um die „Partij van de Arbeid“ der Niederlande, die dortige sozialdemokratische Partei.