Das Sperrfeuer der Desinformation, mit dem hiesige Medien in den letzten Wochen und Monaten den Denkapparat der Leute belegt haben, hat die Ursprünge des gegenwärtigen Ukrainekonflikts vergessen gemacht ganz zu schweigen davon, in welchen historischen und weltpolitischen Kontext die Angelegenheit angemessen einzuordnen wäre.
Auch in unseren Reihen, unter in Deutschland wirkenden Kommunisten, in der (verbliebenen) Friedensbewegung, in linken Jugendverbänden hat die Eskalation des Konfliktes, der sich mittlerweile direkt gegen die Russische Föderation richtet, Diskussionen ausgelöst. Gestritten wird um nicht weniger als den Hauptwiderspruch der Epoche. Geht es um Krieg oder Frieden, wie dies in den 80er Jahren, freilich unter komplett anderen Voraussetzungen unter der Existenz der UdSSR, schon einmal ertönte? Oder geht es um einen Kampf Faschismus Antifaschismus im Weltmaßstab? Sind die USA der Aggressor, ist es Russland? All diese Positionen finden sich in der Debatte. Von einer einheitlichen Linie, selbst von einem linken antimilitaristischen Minimalkonsens kann derzeit nicht die Rede sein. Verheerend auf Teile des demokratischen Kleinbürgertums wirken die grün-chauvinistische Verharmlosung des Faschismus und die kriegerische Propaganda von Pfarrer Gauck. Wenig zielführend sind andererseits hoffnungsvolle Projektionen in die nationale Bourgeoisie Russlands und in ihren Vertreter Wladimir Putin. Wenn wir in diesen Fragen Klarheit erlangen wollen, müssen wir vom Besonderen zum Allgemeinen vorstoßen. Ohne eine solche Analyse bleiben wir handlungsunfähig und ohnmächtig.
Was geschieht in der Ukraine?Rein formal und juristisch betrachtet handelte es sich bei der Entmachtung des ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch am 22. Februar dieses Jahres um einen verfassungswidrigen Vorgang, um eine Usurpation oder einen Putsch. Das anzuerkennen waren hierzulande auch bürgerliche Medien wie etwa der Spiegel bereit (Spiegel Online, 6.3.2014: »
Putin und der legitime Präsident«). Den Putschvorgang von linker Seite rein unter dem Gesichtspunkt der Widerrechtlichkeit zum Skandal zu machen ist jedoch von fragwürdigem Nutzen. Zwar kann so die Doppelzüngigkeit der Sprechautomaten spätbürgerlicher Ordnungen herausgestrichen werden, die doch sonst so viel Wert auf die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien legen, nur eben dann nicht, wenn es den eigenen Interessen zum Vorteil gereicht. Dann wird die suggestive Frage aufgeworfen, "
inwieweit diese Sicht in revolutionären Zeiten politisch maßgeblich ist"
1.
[file-periodicals#180]Daran ist etwas wahres, Revolutionäre sollten das am besten wissen. Für eine Konterrevolution gilt dies nicht minder. Deswegen bringt die Fixierung auf Formalia nicht weiter. Im Zweifel kommt die politische Macht aus den Gewehrläufen, der Umsturz gesellschaftlicher Verhältnisse erfolgt, das steckt schon im Wort, nie wohlgeordnet durch betuliche Parlamentsabstimmungen. Entscheidend bei Umstürzen sind Inhalt und Richtung, Ziel und Zweck. In der Ukraine ist dies gegenwärtig im Wesentlichen die Installation eines offen prowestlichen Regimes unter knochenbrechender und mordbrennender Beteiligung faschistischer Gruppierungen. Letztere wird achselzuckend hingenommen oder ganz geleugnet. Und ein von Faschisten begangenes Pogrom, wie das am 2. Mai im Gewerkschaftshaus von Odessa, hat dann konsequenterweise und bestenfalls "unter ferner liefen" Platz in der Berichterstattung.
Angesichts der Ereignisse muss der Befund lauten, dass USA und EU den Faschismus wieder für nutzbar halten. Die in Kauf genommene Brutalität stellt eine neue Qualität dar und könnte - angesichts des Aufstiegs rechter und extrem rechter Parteien in ganz Europa - den Auftakt für eine reaktionäre und im Zweifel terroristische machtpolitische Option des Kapitals bilden. Die Vorgänge in der Ukraine bestätigen die Funktion des Faschismus als offensive Aggression.
Das jedoch sollte umgekehrt allerdings nicht vorschnell zu der Annahme verleiten, in der Ukraine sei der Faschismus bereits an der Macht. Seine Vertreter von Swoboda, Rechtem Sektor und anderen Gruppierungen nehmen die - mit Reinhard Opitz beinahe klassisch zu nennenden - Aufgaben der terroristischen Einschüchterung, der Hilfspolizei-, der Straßenkampf- und der Bürgerkriegstätigkeit wahr. Teilweise werden sie in den Staats- und Militärapparat integriert. Und doch bleibt uns die Mühe einer differenzierten Herangehensweise auch im Falle der mörderischen Banden in der Ukraine nicht erspart: Das Regime in Kiew ist unzweifelhaft durch westliche Imperialisten, die selbst jedoch derzeit nicht faschistisch sind, eingesetzt. Wenn bereits von einem Faschismus an der Macht in der Ukraine gesprochen werden könnte, müsste zumindest ein Unterschied zwischen faschistischer Machtausübung in der Peripherie und in den Metropolen anerkannt werden: Letzterer dient der Vorbereitung und Durchführung eines imperialistischen Raubkrieges, im Falle der zertrümmerten und schwachen Ukraine sind die Ziele jedoch nach innen gerichtet - Terror gegen Teile der eigenen Bevölkerung zur Herstellung eines Abhängigkeitsverhältnisses.
Bleibt die Frage: Wer oder was herrscht in der Ukraine? Wie selten sonst trifft auf den ersten Blick ein Begriff der antiken Verfassungslehre zu: Oligarchie das ist die gesetzlose Herrschaft weniger Reicher, die ausschließlich an ihrem Eigennutz interessiert sind. Diese Oligarchen entsprangen den Zerfallsprozessen der Sowjetunion und häuften, zeitgleich zu analogen Vorgängen in Rußland, als Abkömmlinge des kommunistischen Jugendverbandes, der Parteinomenklatura und der Kombinatsführungen, aber auch als Angehörige gewöhnlicher krimineller Vereinigungen ungeheure Reichtümer an, indem sie den staatlichen und gesellschaftlichen Besitz durch legale wie illegale Privatisierungen zu dem ihren machten. So gestaltete sich aus der Erbmasse der Sowjetunion die Restauration kapitalistischer Verkehrs- und Besitzformen.
Aus dieser ehrenwerten Gesellschaft, die sich je nach Branchenzuschnitt und geographischer Lage und vor allem nach kurzfristig realisierbaren Profiterwartungen mal mehr der EU, mal eher den USA, mal Rußland zuwandten, setzt sich die herrschende Klasse in der Ukraine zusammen. Es liegt im Begriff der Sache, daß eine so verfaßte Herrschaft auf Dauer weder Staat noch Stabilität ausbilden kann. Ließ sich während der Präsidentschaft Leonid Kutschmas, die von 1994 bis 2005 währte, noch von einer Ausbalancierung der Interessen verschiedener Clans, Rackets, Kapitalfraktionen sprechen, so kann davon nunmehr keine Rede mehr sein. Der ukrainische Staat war und ist Beute, Objekt der Machtkämpfe. "Einen zuverlässigen Indikator für die rasche Erosion staatlicher Autorität in dem zerrissenen osteuropäischen Land stellt die nahezu unüberschaubare Anzahl von Milizen und irregulären Kampfverbänden dar, die in den vergangenen Monaten entstanden sind. Neben einer unübersehbaren Vielzahl von prorussischen Milizen und bewaffneten Gruppen, die in der Süd- und Ostukraine für die Unabhängigkeit von Kiew kämpfen, ist auch der ukrainische Staat zunehmend auf hastig aufgestellte Einheiten seiner 'Nationalgarde' und irreguläre Kampfeinheiten angewiesen, die oftmals aus Neonazis aufgebaut und durch einflussreiche Oligarchen finanziert werden"
2 (Tomasz Konicz).
Der Bürgerkrieg im Donbass als StellvertreterkonfliktDaß dieser Zustand nunmehr eingetreten ist, läßt sich nicht mit einer Beschränkung auf die einander widersprechenden, bornierten Interessen der Oligarchen erklären. Die Ukraine gehört zu den am meisten korrupten und gemessen am Durchschnittseinkommen der arbeitenden Bevölkerung zu den ärmsten Ländern Europas. Der 2010 zum Präsidenten gewählte Victor Janukowitsch nutzte seine Position, um seinen eigenen Clan zu bereichern, während Staatsbediensteten die Pensionen gekürzt wurden. Die Proteste gegen den Präsidenten hatten, unabhängig vom unerfreulichen Anlaß, ein berechtigtes soziales Anliegen, das sich indes alsbald mit nationalistischer Ideologie paarte und sich schnell von faschistischen Banden den Takt vorgeben ließ. Unerfreulich ist der Anlaß deshalb, weil die Träger des Protests illusionäre Hoffnungen in das von Janukowitsch verschleppte und später auf Eis gelegte EU-Assoziierungsabkommen setzten. Diese von westlichen Thinktanks leider allzu wirkungsvoll propagierte Hoffnung, eine engere Anbindung an die EU vermöge Verarmung, Kleptokratie und Nepotismus wirkungsvoll zu beseitigen, hat in diesem Fall im Osten noch einmal umfassend funktioniert, während große Teile der EU längst in eine lang andauernde Stagnation und Depression abgerutscht sind.
Die Proteste im Osten der Ukraine hingegen sind nicht von diesen Illusionen in die EU erfüllt. Auch dort wurde gegen Korruption und Oligarchenherrschaft protestiert, ohne sich jedoch mit einem spezifisch ukrainischen Nationalismus auszustatten, der aufgrund der konkreten historischen und sozialen Umstände gänzlich ohne Resonanzboden ist. Die Verlaufsformen der Proteste - bis hin zu den militärischen Auseinandersetzungen - haben gezeigt, daß die abhängigen, arbeitenden, abgehängten Schichten des gesamten Landes kein gemeinsames Bewusstsein ausgebildet haben, auf dessen Grundlage der Gegner - die Oligarchie - benannt und anschließend bekämpft werden könnte. Stattdessen überlagern Motive der ethnischen, regionalen und kulturellen Identifikation das Geschehen. Im Donbass ergibt sich ein diffuses Bild. Einesteils wurden dort Forderungen laut, die die Eigentumsfrage berühren, was dem Vernehmen nach auch in Kiew gehört wurde. So erklärte Jurij Luzenko, unter Timoschenko zweimal Innenminister und jetzt Berater des Präsidenten Poroschenko, laut Spiegel vom 2.6.2014: "
Sehen Sie genau hin, was im Osten passiert. Die Separatisten fordern längst nicht mehr eine Föderalisierung oder einen besseren Status für die russische Sprache. Sie wollen den Reichtum der Oligarchen aufteilen, in diesem Fall des Milliardärs Rinat Achmetow". Und der russische Soziologe Boris Kagarlitzki äußerte im Interview mit dem Eurasischen Magazin über die Aufständischen: "
Sie verlangen eine Trennung von Staat und Geschäften. Sie verlangen die Verstaatlichung der Kohleminen. Sie protestieren gegen die Nicht-Auszahlung der Löhne, insgesamt gegen das ganze IWF-Paket, also das Ansteigen der Preise, die Monetarisierung der kommunalen Strukturen etc. Wenn das aber trotz ihrer Forderungen alles so kommen sollte, sagen sie, dann müssen wir uns Russland anschließen, dann haben wir keine andere Wahl"
3.
Andererseits standen bis zuletzt an der Spitze der beiden "Volksrepubliken" Donezk und Lugansk, die sich am 25. Mai 2014 zur "Föderativen Volksrepublik Neurussland" zusammengeschlossen haben, Personen, die dem Umfeld der russischen Geheimdienste FSB (Inlandsgeheimdienst) und GRU (Militärgeheimdienst) entstammen und denen Kontakte zu dem russisch-orthodoxen, nationalistischen Oligarchen Kontantin Malofejew nachgesagt werden.
In der jungen Welt vom 21.8. war zum ambivalenten Charakter zu lesen: "
Ähnlich wie im Jugoslawienkrieg sowie in vielen politischen Auseinandersetzungen in den 1990er Jahren in Osteuropa hatten sich auch in Donezk verschiedene soziale und nationale Kräfte gegen einen gemeinsamen Feind zusammengefunden. In der Verfassung der VRD wurden dementsprechend nicht nur ein Sozialstaat, sondern auch traditionalistische Familienbilder und die Zugehörigkeit zum orthodoxen Glauben festgeschrieben. Sowohl russischsprachige Nationalisten als auch Mitglieder der Kommunistischen Partei der Ukraine (KPU) schlossen sich den Gremien der »Volksrepublik« an."
4 (David X. Noak). Diese Synthese ergibt das Bild einer paternalistischen, nicht aber progressiven, einer nicht neoliberalen, aber auch nicht antikapitalistischen politischen Richtung.
Der Krieg im Donbass trägt bereits Züge eines Stellvertreterkonflikts. Auf Seiten der Aufständischen kämpfen Franzosen, Serben und Spanier, vor allem aber etliche russische Freiwillige. Die Regierungstruppen erhalten Unterstützung durch bezahlte Söldner amerikanischer und britischer Sicherheitsfirmen. Dem faschistischen Bataillon »Asow« haben sich zahlreiche europäische, vermutlich auch deutsche Neonazis angeschlossen. Der Bürgerkrieg ist eben keineswegs (nur) das Resultat rivalisierender Warlords. Ohne die Einflußnahme imperialistischer Staaten, deren Vorgehen untereinander alles andere als harmonisch abläuft, wäre die zugespitzte Situation in der Ukraine nicht entstanden und nicht zu klären. Die Anwesenheit ausländischer Kombattanten auf dem ostukrainischen Schlachtfeld bringt nur allzu deutlich zum Ausdruck, daß es um sehr viel mehr geht als um die Frage, wer in dem Land, dessen Name bezeichnenderweise soviel wie Grenzgebiet oder Militärgrenze bedeutet, das Sagen hat.
Der Konflikt um die Ukraine ist nicht zuletzt auch ein Konflikt um kapitalistische Einflußsphären. Auch die russische Außenpolitik setzt sich nicht das Ziel, der Menschheit auf den Sprung zu helfen. Auch im heutigen Russland bildet das nackte ökonomische Interesse den maßgeblichen Antrieb. Allerdings, und das ist entscheidend, ging die Eskalation unzweifelhaft von den USA bzw. der EU aus und bildet den vorläufigen Höhepunkt einer Strategie der Zurückdrängung und Einkreisung Rußlands. Bei der Bewertung der Großmachtpolitik muß zwischen offensiv und defensiv agierenden Staaten unterschieden werden.
Das neue Russland im Fokus der ImperialistenSeit über 20 Jahren betreibt die US-geführte NATO eine Politik der Umzingelung, hat trotz anderslautender Beteuerungen ihren Herrschaftsbereich beständig nach Ost verschoben und erwägt nun gar, in Polen und im Baltikum dauerhaft Truppen zu stationieren. Derweil hat eine deutsch-geführte EU mit ihrer Osterweiterung die Grenzen Russlands erreicht und tangiert dessen Interessen unmittelbar. Eine Wiederauferstehung Russlands als ökonomische, politische und militärische Macht wollen beide Blöcke verhindern.
In der Ukraine ist die Grenze erreicht, an der die russische nationale Bourgeoisie nicht mehr tatenlos zusehen konnte. Die Installation eines offen prowestlichen Regimes auf dem Putschwege konnte sie um den Preis des Untergangs nicht akzeptieren. Eine nationalistische und russenfeindliche Regierung zu Diensten der USA und/oder der EU sowie der damit zu erwartende Verlust der Krim (als seit rund 150 Jahren strategisch wichtiger Schwarzmeerhafen) hätte eine ganz neue Qualität des roll back russischer Interessen bedeutet. Deswegen ist der Territorialgewinn in Gestalt der Krim kein offensiver Landraub, sondern ein defensiver Akt gewesen, möglicherweise gar mit ökonomischen Verlusten für die neuen Herren behaftet. Die indirekte Einflussnahme, die Russland 25 Jahre lang in der formal unabhängigen Ukraine betreiben konnte, war weitaus souveräner und auch kostengünstiger als der coup détat, mit dem Putin retten musste, was überhaupt noch zu retten war und das in der Rolle des Usurpators, der die (bislang von der Russischen Föderation stets verteidigten) Regeln der Weltgemeinschaft bricht. Das Bündnis mit der (stets durch Separatismus bedrohten) VR China leidet durch solchen Akte, das ist der russischen Seite mit Sicherheit bewusst. Es ist bezeichnend, dass Russland trotz all dieser Widrigkeiten keinen anderen Weg zur Sicherstellung von althergebrachten Interessen als die Annexion der Krim sah.
Was der Westen dem russischen Präsidenten nicht verzeihen will, ist, dass er den unter Jelzin in Gang gesetzten Staatszerfall und die Landnahme durch westliches Kapital gestoppt hat. Die Restauration kapitalistischer Verhältnisse in der ehemaligen UdSSR und ihrer Verbündeten eröffnete dem bei struktureller Überakkumulation in verstärkten Maße nach InvñABU ñABU ?ÏAU @HÏAU xñABU 0ñABU @ 0ñABU rgang der UdSSR und ihrer Einflusszone war sozusagen nicht weniger als die Entdeckung eines ganz neuen, durch das Kapital unberührten Kontinentes. Russland drohte der komplette Ausverkauf seiner Industrien und Ressourcen, der Zerfall seiner politischen Souveränität und Eigenständigkeit. Putin entmachtete jene dem Westen hörigen Teile der Oligarchie und unterwarf die externe Kapitaldurchdringung staatlicher Aufsicht. Die Gewinnung von Erdöl und Erdgas als Hauptgewinnquelle obliegt seither der Kontrolle des Staates.
In der gegenwärtigen Phase besteht in der Frage des Antifaschismus für uns Interessengleichheit mit dem Vorgehen Russlands und dem der ukrainischen Antifaschisten. Russland ist das Land, das angegriffen wird, das dürfen Antimilitaristen und Antiimperialisten hierzulande nicht vergessen. Wir gewinnen nichts, wenn wir uns an der Entlarvung dieser Länder, die die Medien der Herrschenden tagtäglich (und manchmal sogar mit marxistischem Vokabular) vornehmen, beteiligen. In Anbetracht der Aggression der deutschen Bourgeoisie wäre das Heulen im Chor mit den Menschenrechtlern von Grünen, GfbV oder Bild nichts weiter als Beteiligung an einer imperialistischen Intrige. Diese prinzipielle Feststellung sagt jedoch noch nichts über den innenpolitischen Charakter der Russischen Föderation aus. Das Russland Putins ist kapitalistisch, es ist ein verhinderter Imperialismus in einer Defensivposition, das sich, aus der Situation der Umzingelung heraus, außenpolitisch oftmals objektiv antiimperialistisch verhält, insofern es den Ansprüchen der USA respektive der EU gegenübertritt, dennoch aber eigene politökonomische Interessen verfolgt.
Bürgerlich-obrigkeitlicher Staat ohne bürgerliche Gesellschaft Trotz nicht unerheblicher Diversifizierungsbemühungen in den letzten Jahren konzentriert sich die russische Wirtschaft noch immer auf die Ausbeutung primärer Rohstoffe, vornehmlich im Energiebereich. Diese Rentenökonomie ist mit der Staatsmacht weitgehend verschmolzen. Eine kapitalistische Modernisierung wird durch den Wiederaufbau der Industrie zwar angestrebt, konnte aber bislang nicht das Niveau der westlichen Metropolen erreichen. Der Anteil am Welthandel ist vergleichsweise gering. Typische Merkmale imperialistischer Staaten, wie etwa der weltweite Kapitalexport durch ein ganzes Bündel breit aufgestellter Monopole, die in fast allen Bereichen mit ausländischen Gegnern konkurrieren können, sowie Teilhabe bei der Aufteilung der Welt fehlen im russischen Falle weitgehend. Gleichwohl: Als kapitalistischer Staat betreibt Russland kapitalistische Außenpolitik und versucht, seine Einflusssphären zu sichern. Es benötigt an seinen Grenzen Staaten, die dem eigenen Anspruch auf Teilhabe am Weltmarkt nicht im Wege stehen. Von einer expansiven Ausdehnung kann derweil nicht die Rede sein; unabhängig davon, dass unter günstigeren Bedingungen vermutlich genau das angestrebt würde.
Das System von Ökonomie, Politik und Gesellschaft im kapitalistischen Russland ist wegen seiner spezifischen historischen Bedingungen nicht mit den westlichen Metropolen vergleichbar Der im Westen tradierte bürgerliche Rechtsstaat mitsamt ausgebildeten bürgerlich-demokratischen Institutionen existieren bestenfalls formal. Mit einiger Plausibilität lässt sich Russland als bürgerlich-obrigkeitlicher Staat ohne bürgerliche Gesellschaft bzw. ohne zivilgesellschaftliche Strukturen bezeichnen. Dieser Umstand wird vom Westen mit universalem Sendungsbewusstsein und imperialem Ordnungsverständnis gnadenlos ausgenutzt, um eine Transformation in seinem Sinne (und damit den zwangsläufigen Untergang, weil dann im Widerspruch zur andersgearteten ökonomischen Basis) einzufordern. Daran beteiligen wir uns als Kommunisten nicht. Die Ambivalenz zwischen der realen innenpolitischen Rückständigkeit und der russischen Rolle in der Weltpolitik werden wir aushalten müssen.
Die offizielle russische Geschichts- und Ideologiepolitik greift zur Legitimation auf Begriffs- und Bilderwelten zurückliegender Epochen zurück. Dies verwirrt bisweilen auch Linke im Westen. Je nach Bedarf bedient sich etwa Wladimir Putin aus zaristischen oder sowjetischen Erinnerungsbeständen. Der Rückgriff auf letztere geschieht jedoch selektiv. Die sozialen Leistungen und Errungenschaften dieser Epoche spielen dabei kaum eine Rolle, die Erinnerung an den progressiven sozialen Inhalt bleibt versperrt, weil an den neu errichteten kapitalistischen Strukturen nicht gerüttelt werden soll. Vielmehr dient der Rückgriff auf die sowjetische Geschichte der Beschwörung einstiger nationaler und imperialer Größe. Ein Beispiel eigenwilliger Geschichtsinterpretation lieferte Putin am 8. August bei der Einweihung eines Denkmals für die gefallenen Soldaten des Ersten Weltkriegs, indem er unter anderem sagte: "
Im geistigen und moralischen Aufstieg unseres Volkes spielen auch heute die großartigen Werte der russischen Armee, die heldenhafte Erfahrung der Generation des Ersten Weltkrieges eine bedeutende Rolle. Sie durchschritten nicht nur lange die harten Erfahrungen des ersten globalen Weltkrieges, sondern auch die revolutionäre Umwälzung, den brudermörderischen Bürgerkrieg, der das Schicksal Russlands zerriss." Gegen die Bolschewiki gerichtet führte er aus: "
Aber dieser Sieg wurde unserem Land gestohlen. Gestohlen durch jene, die zur Niederlage des eigenen Vaterlandes und seiner Armee aufriefen, die innerhalb Russlands Zwietracht säten, an die Macht strebten und die nationalen Interessen verrieten."
Die Konstruktion der neuen russischen Nation erfolgt im Bündnis mit der orthodoxen Kirche und unter Rückgriff auf die Traditionen des alten Russland. Zum Feindbild geraten innerhalb dieser Ideologie die als dekadent und verweichlicht betrachteten westlichen Gesellschaften. Der stattdessen propagierte Nationalstolz bedient sich eines mythenhaften Panslawismus und keiner sozialen, revolutionären oder demokratisch-patriotischen Tradition; das verherrlichte Familienbild ist ein altbacken-patriarchales. Fortschrittlich ist daran nichts.
Die bereits zitierte Rede Putins drückt aus, wo die herrschende Klasse Russlands, die nationale Bourgeoisie, anzusetzen gedenkt. Der Traditionsfaden des untergegangenen Zarismus, vielleicht auch des kurzlebigen Regimes unter Kerenski wird nach 80 Jahren roter Betriebsunterbrechung nicht grundlos oder zufällig wieder aufgenommen. Völlig übereinstimmend mit ihren objektiven Interessen will die russische Bourgeoisie expandieren, Einflusssphären errichten, Märkte erobern. Dass ihr dies nicht gelingt, hat mit den internationalen Kräfteverhältnissen zu tun und zwingt sie zum Lavieren. Die Ausnutzung zwischenimperialistischer Widersprüche glückt dabei nur punktuell, beispielsweise durch Einbindung westlichen Herrschaftspersonals wie des ehemaligen deutschen Kanzlers Gerhard Schröder in den russischen Staatskonzern Gazprom. Am wirkungsvollsten sind immer noch ökonomische Beziehungen, politische oder kulturelle Hegemonie liegt für Russland in weiter Ferne. In einer solchen Situation kann es einem Hasardeur und Selbstanbieter wie Jürgen Elsässer gelingen, regelmäßig im russischen Fernsehen vor Millionenpublikum als Deutschlandexperte zu reüssieren. Das ist in keiner Weise sein Verdienst, sondern nur Ausdruck doppelter Schwäche: Unserer eigenen, weil wir derzeit keine Oppositionskraft in der Metropole BRD herausbilden zu können, die wirkungsvoll gegen Kriegsvorbereitungspolitik und gegen die Einkreisung Russlands agitieren könnte. Aber auch der Schwäche Russlands, keine vergleichbare Wirkung in den Westen hinein erzielen zu können, wie es umgekehrt den Imperialisten immer wieder gelingt mit Figuren wie Pussy Riot oder einer bezahlten demokratischen Opposition.
Eskalation der zwischenimperialistische WidersprücheWelcher Gestalt sind die internationalen Kräfteverhältnisse, die Russland klein halten? Es ist die Übereinstimmung der beiden maßgeblichen imperialistischen Blöcke, der USA und ihrer Vasallen und der von der BRD dominierten EU, in dieser einen Frage: Ein Wiederaufstieg Russlands in den elitären Zirkel der Großmächte ist nicht gewünscht, denn die Welt ist bereits in Einflusssphären geteilt, jeder Konkurrent kann nur zu Lasten der bereits etablierten Mächte aufsteigen. Russland soll nicht am Weltmarkt teilnehmen, es soll ganz zerlegt werden. Dementsprechend wurden die einst ideologisch begründeten internationalen Bündnissysteme, die nach eigener Lesart 1990/91 obsolet geworden sein müssten, umfunktioniert: Die NATO, einst in Konfrontation zu den Staaten des Warschauer Vertrages, wurde gegen das neue Russland in Stellung gebracht und bis in ehemalige Sowjetrepubliken expandiert.
Hier allerdings enden die Gemeinsamkeiten des Westens, denn das Ziel entzweit die Verbündeten, je greifbarer es scheint: Wer sich welche Stücke der Beute sichern darf, ist noch lange nicht geklärt. Die ökonomischen Interessen der USA und Deutsch-Europas unterscheiden sich im Falle Russlands diametral. Während das deutsche Kapital sofort nach der Konterrevolution auf Export aus allen Bereichen und in alle Bereiche setzte und deshalb aktuell stark im russischen Markt vertreten ist, konzentrierten sich die USA auf die Aufrollung der Einflusssphären, auf die frei gewordenen internationalen Verbündeten der einstigen UdSSR auf allen Kontinenten. Heutzutage ist amerikanisches Kapital in Russland fast gar nicht vertreten, deutsches umso stärker. Die Energieabhängigkeit Westeuropas von den russischen Gas- und Ölreserven tut ihr übriges jede Pipeline ist eine Lebensader der deutschen Industrie. Unter Wirtschaftssanktionen gegen Russland leidet die deutsche Wirtschaft ebenso sehr wie die russische, die US-amerikanische hingegen nicht.
Daraus werfen sich zwei Fragen auf: Warum hält die BRD am Bündnis mit den USA fest, obwohl es im Falle Russlands auch ihren Interessen zu schaden scheint? Und warum eskalieren die USA den Konflikt mit Russland derart willentlich?
Mit der Konterrevolution 1989-91 haben sich alle internationalen Verhältnisse verschoben. Die unumstrittene westliche Führungsmacht, die USA, befand sich 1989 auf dem Zenit ihrer Macht, in einer einmaligen Position der Stärke. Gleichzeitig ging ihr das wichtigste Instrument verlustig, mit dem bislang alle anderen imperialistischen Mächte hinter sie geschart werden konnten: Der disziplinierende Hass auf den gemeinsamen Feind, den Sozialismus in Europa und der UdSSR. Nur unter Eindruck dieses mächtigen Gegners konnten die zwischenimperialistischen Widersprüche ein Vierteljahrhundert (auch das mehr schlecht als recht) unterdrückt werden. Nach 1989 mussten sie erneut aufbrechen. Doch gleichzeitig konnte der Weltimperialismus nach Beseitigung der Sowjetunion nicht die Kalender um siebzig Jahre zurückstellen die Welt war eine andere geworden, die VR China entging der Konterrevolution, der Sieg über den deutschen Faschismus hatte den Sozialismus zum welthistorischen Faktor mit Nachwirkung gemacht, seine einstige Stärke war in Gestalt einer waffenstarrenden Armee übrig geblieben, nun unter neuen Herren: Ökonomisch drastisch gestutzt, verfügt die russische Bourgeoisie über die Waffenschmieden, die Flugzeugindustrie und die Wasserstoffbomben einer Supermacht. Das ist historisch ohne Beispiel.
Die USA als primus inter pares der Imperialisten machte nach dem Fall der UdSSR die erstarkende VR China als kommenden globalen Gegner aus, die amerikanische Strategie orientierte sich dementsprechend nach Osten: Dieser pivot to asia überließ den Verbündeten in Europa gute Teile der postsowjetischen Beute. Mit dem Sieg über den Weltsozialismus begann der Abstieg der USA. Eine Reihe von Arrondierungs-, Rohstoff- und Vorfeldkriegen muss als gescheitert eingestuft werden; die US-Strategie der Aufrollung des Nahen Ostens (Irak) bis hin nach Zentralasien (Afghanistan), um schließlich den Iran unter Kontrolle zu bekommen, sollte die chinesischen Grenzgebiete erreichen, blieb aber lange vorher im Wüstensand stecken. Keinen der Kriege des neuen Jahrtausends konnten die USA im Sinne einer dauerhaften Unterwerfung und Befriedung gewinnen. Das deutsche Kapital hat diesen Niedergang der Weltmacht ungerührt mit angesehen als Verbündeter, wenn es deutschen Interessen dienlich schien, wie im Jugoslawienkrieg oder in Afghanistan, als Neutraler, wenn nichts abzuspringen schien, wie im Irak. In den letzten Fällen, in Libyen und Syrien, hat das deutsche Kapital bereits konsequent auf eine Separatstrategie gesetzt. Die letzte Supermacht ist dabei, zurückgestutzt zu werden, wenn auch in einer langen Zeitspanne, denn auch hier bleibt das Riesenarsenal der militärisch-industriellen Komplexes aus dem Kalten Krieg übrig. Der große Binnenmarkt verschafft den USA obendrein Spielraum; inwiefern die breite Anwendung der Technologie des Schieferöl-Fracking eine Rohstoffunabhängigkeit auf längere Sicht schaffen kann, ist noch nicht absehbar.
Der Zerfall der Nachkriegsordnung und der Untergang des sozialistischen Blocks hat in der Peripherie weltweit zu sehr unterschiedlichen Resultaten geführt: Auf der einen Seite dem Aufstieg der VR China, deren Existenz auch dem Nachhall des Kanonendonners der Oktoberrevolution geschuldet ist, und der Herausbildung einer tendenziell progressiven Bewegung insbesondere in Lateinamerika, mit dem sozialistischen Kuba, dem revolutionären Venezuela und dem fortschrittlichen ALBA-Bündnis. Auf der anderen Seite zu einem Rückfall in beinahe koloniale Formen der Abhängigkeit in Teilen Afrikas, einem Zusammenbruch ganzer Nationalstaaten wie aktuell durch den Vormarsch der IS-Milizen im Nahen Osten und einem Wiederaufleben vorgestriger, ultrareaktionärer Bewegungen im Herzen Europas - im Ungarn Victor Orbans oder in Frankreich mit den Wahlerfolgen des Front National. Die Perspektiven separatistischer und nationalrevolutionärer Bewegungen haben sich nach 1989 nicht nur verschlechtert, oftmals haben sie ihren Charakter geändert: Ohne UdSSR, ohne sozialistisches Lager besteht wenig Hoffnung auf eine Dynamik in Richtung sozialistischer Revolution, die Zertrümmerung von bestehenden Staaten führt in der Regel nur zur besseren Beherrschbarkeit durch die Metropolen und ruft oftmals regressive Widerstandsformen hervor. Den epochalen Einschnitt, den die Konterrevolution 1989 bedeutet, erkennen wir nach wie vor erst in Konturen. Er hat eine neue imperialistische Epoche eröffnet, unsere Kampfbedingungen grundlegend verändert und erfordert schonungslose Analyse, insbesondere, was die Verfasstheit unseres Hauptfeindes, der deutschen Bourgeoisie, anbelangt.
Die Interessen des deutschen ImperialismusDas imperialistische Deutschland konnte nach 1989 im Wesentlichen alle einstigen Ziele des Zweiten Weltkriegs realisieren: Vernichtung des Sozialismus und Dominanz über Europa, wenigstens bis fast zum Ural. Schon vor Entfesselung des II. Weltkriegs dachten die Strategen beim Überfall auf Europa nur an das Sprungbrett für den anstehenden Kampf um die Weltherrschaft, als Gegner machten sie die USA aus. An dieser Konstellation hat sich nach 1989 nichts Grundlegendes geändert, auch wenn sich der politische Überbau gewandelt hat. Die Gesetzmäßigkeiten des Kapitals, der beständige Zwang zur Expansion, treibt die deutsche Bourgeoisie erneut in Auseinandersetzungen mit Gegnern, die vermutlich auch diesmal zu groß sind, um besiegt werden zu können. Gleichzeitig bleiben gemeinsame Interessen mit den USA bestehen, vor allem gegen Russland und die VR China. Die vielgerühmte transatlantische Partnerschaft ist längst, selbst unter einer dominierenden transatlantisch orientierten Fraktion des deutschen Kapitals, zu einer Fall-zu-Fall-Freundschaft geworden: Mit den USA, wenn es nutzt, ohne die USA, wenn es möglich ist und gegen die USA, wenn es nötig wird.
Das US-Kapital hat darauf spezifisch reagiert und versucht, die deutsche Expansion einzudämmen, ohne die direkte Konfrontation zu suchen. Dies war bereits im Ringen um den Euro als europäische Binnenwährung erkennbar. Heutzutage äußert sich das amerikanische Unbehagen über den deutschen Zuwachs an Stärke in Auseinandersetzungen um Syrien oder Libyen, aber auch in einer unterschiedlichen Strategie gegenüber Russland. Selbst beim Umsturz in der Ukraine rangen eine amerikanische und eine von Außenminister Steinmeier formulierte deutsche Strategie miteinander. Unter den ukrainischen Kollaborateuren gibt es US-Vasallen wie Julia Timoschenko und deutsche Marionetten wie den Boxer Klitschko, der nun Bürgermeister Kiews ist. Affären wie das enthüllende Telefonat der US-Emissärin Victoria Nuland in der Ukraine, deren
fuck the EU wohl von russischer Seite aufgefangen und postwendend veröffentlicht wurde, illustrieren dies. Die USA arbeiten zudem bereits daran, eine Art zweite NATO, diesmal unter Ausschluss der BRD, aus den Staaten Osteuropas zu formieren
5. Sie würde sich wie ein Gürtel zwischen Russland und Deutschland legen und damit empfindliche Rohstoffrouten kappen. Es ist angezeigt, auch die aktuelle Auseinandersetzung mit Russland und die amerikanischen Maximalforderungen nach Wirtschaftssanktionen, die in zweiter Linie stets die BRD empfindlich treffen, unter diesem Aspekt zu betrachten.
Herausbildung einer eurasischen KapitalfraktionDie transatlantische Bündnistreue, die Deutschland an der Seite der USA hält, ist keine Nibelungentreue und schon gar nicht einer fehlende Souveränität Deutschlands gegenüber einem großen Bruder geschuldet. Das Bündnis hält deswegen, weil es dem deutschen Kapital mehr Nutzen als Schaden bringt. Die herrschenden Fraktionen der Monopolbourgeoisie wollen nicht auf die Gewinne des transatlantischen Handels und die dadurch erreichbaren weltweiten Exportgebiete verzichten, Russland könnte all dies gar nicht ersetzen. Innerhalb der herrschenden Klasse der BRD wirken diese Geschehnisse jedoch wie ein Katalysator auf die Herausbildung gegnerischer Kapitalfraktionen. Denn ein weiter so wie bisher, ein Taktieren nach Ost und West, wird immer schwieriger gleich gute Geschäftsbeziehungen zu Russland, der VR China und den USA zu unterhalten ist mittlerweile ein Ding der Unmöglichkeit, doch in all diesen Märkten ist bereits viel deutsches Kapital untergebracht. Deshalb hat sich eine zweite Front gebildet, die innerhalb der herrschenden Klasse weltweite Widersprüche abbildet: Wer muss verzichten, wer setzt sich durch? Zugespitzt könnte dies beispielsweise bedeuten: Ein transatlantisches Freihandelsabkommen (TTIP) mit großen Gewinnen für bestimmte Monopole ist nur zu bekommen, wenn die Verschlechterung der Beziehungen zu Russland in Kauf genommen wird, unter der wiederum etliche andere, manchmal gar dieselben Monopole zu leiden hätten.
Siemens-Konzernchef Joe Kaeser besuchte noch im März dieses Jahres Wladimir Putin und lobte die
vertrauensvolle Beziehung:
Wir setzen auf eine langfristige Wertepartnerschaft. Das ist im Falle Siemens auch angezeigt: Heute beschäftigt der Konzern in Russland mehr als 3000 Mitarbeiter und erwirtschaftet ca. zwei Milliarden Euro Umsatz. Das Unternehmen lasse sich "
von kurzfristigen Turbulenzen in unserer langfristigen Planung auch nicht übermäßig leiten", gab sich Kaeser, lange nach dem Umsturz in Kiew, selbstbewusst gegenüber dem ZDF. Andererseits, um beim Beispiel Siemens zu bleiben: Das deutsche Monopol ist auch in Amerika gut im Geschäft. Die Medizintechnik-Tochter Siemens Medical Solutions konnte sich, rein zufällig ebenfalls im März, einen Großauftrag des US-Verteidigungsministeriums sichern. Laut US-Ministerium hat das Geschäft ein Gesamtvolumen von bis zu 1,8 Milliarden Dollar. Einen Monat später gab Kaeser seinen Separatkurs gegenüber Russland auf und stimmte Wirtschaftssanktionen gegen Russland zu.
Das Primat der Politik gilt, gab er Ende April bekannt:
Wir halten uns daran, und wir werden auch sehr konsequent diese Dinge umsetzen.
Der nach Intervention durch Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) geplatzte Deal der Rüstungssparte von Rheinmetall über die Lieferung eines kompletten Gefechtsübungsstandes an Russland wurde dem Konzern vom ideellen Gesamtkapitalisten, dem Staat, mit Steuergeld versüßt. Diese Beschwichtigungspolitik der Bundesregierung, Unterstützung ihres Russlandkurses gegen klingende Münze zu erkaufen, ist allerdings kaum beliebig fortzusetzen: So viel Kapital, wie im Falle eines Totalverlustes Russlands für die deutsche Bourgeoisie abgeschrieben werden müsste, ist aus dem Bundeshaushalt nicht zu erbringen.
Zu den Merkwürdigkeiten der Zeit gehört es, dass genau diese erheblichen Konflikte kaum ihren Weg in die Kommentarspalten der bürgerlichen Massenmedien finden, sondern hinter verschlossenen Türen ausgehandelt werden. Auch dies entspringt historischen Besonderheiten, vor allem der starken Kontrolle des transatlantisch orientierten Flügels der deutschen Bourgeoisie (und zum Teil wohl auch des gewachsenen Einflusses amerikanischer Dienste. Namhafte Leitartikler großer Zeitungen wie der Süddeutschen oder der FAZ treffen sich z. B. regelmäßig beim proamerikanischen Lobbyistenverein Atlantik-Brücke.) im Massenmediensektor. Es gibt keine Zeitung, keinen Sender, nicht einmal einen Thinktank von Format, der die erheblichen Interessen der auf Russland orientierten Teile des deutschen Monopolkapitals adäquat abbilden würde. (eine bemerkenswerte Ausnahme bietet das Handelsblatt und sein Herausgeber Gabor Steingart, der bissig kommentierte, das »
Meinungsspektrum« der deutschen Medien zur Ukraine und zu Rußland sei auf »
Schießschartengröße verengt« worden und damit seine Kollegen und Klassenbrüder von FAZ, SZ und Welt direkt angriff). Aber auch im politischen Überbau stehen die prorussischen Vertreter des deutschen Kapitals weitgehend isoliert dar. Selbst die wenigen Stimmen, die behutsam auf einen weniger konfrontativen Russlandkurs orientieren, werden als politische Parias abgestempelt eine Lobbyistentätigkeit für Putin, wie sie beispielsweise ausgerechnet der Junge-Union-Chef Philipp Mißfelder erkennen ließ, ist parlamentarisch nicht mehr akzeptabel. Es würde den Rahmen sprengen, detailliert auf die Versuche einzugehen, eine solche prorussische Struktur in Politik und Medien zu schaffen. Zusammenfassend sei deshalb darauf hingewiesen, dass politische Grenzgänger und neue Inflationsheilige, aber auch Hasardeure wie Jürgen Elsässer sowie Vertreter isnbedsondere des nichtmonopolistischen Kapitals (heute eher in der AfD als in der FDP organisiert), darauf setzen, dass sich eine russland-"freundliche" Strategie innerhalb der herrschenden Klasse durchsetzen könnte. Es ist völlig unerheblich, ob sie dies aus panslawistischer Sympathie für Russland, eigenen handfesten wirtschaftlichen Interessen oder demagogischem Kalkül tun. Ihre Projekte wie der kurzzeitige Versuch, mit Hilfe von neuen Montagsdemonstrationen u. a. eine radikal antiamerikanische Stimmung auf die Strasse zu bringen - tragen den Charakter von Testballons bei der Generierung einer neuen Massenbasis des Kapitals. Adressat all dieser Bemühungen ist nicht der russische Präsident Putin, selbst wenn Geld aus Russland an diese Teile der deutschen Opposition fließen sollte. Ziel ihres Buhlens ist das deutsche Kapital: Nur wenn es nennenswerten Teilen dieses Kapitals opportun erscheint, neue bürgerliche Bewegungen, Parteien und Massenmedien herauszubilden, wird dies geschehen.
Und die Kommunisten?Die Formation einer Kapitalfraktion mit Interesse an Russland (und darüber hinaus an der VR China), an der Aufrechterhaltung eines geschäftsmäßigen Umgangs, vielleicht gar eines engeren Bündnisses mit diesen Mächten, ist im Gange. Diese könnte man als die eurasische im Gegensatz zur transatlantisch orientierten - Fraktion bezeichnen. Es dürfte nur eine Frage der Zeit sein, bis sich ein entsprechendes zivilgesellschaftliches Netzwerk entwickelt hat. Aus Sicht der Kommunisten und der arbeitenden Klasse bietet die Herrschaft keiner dieser Fraktionen irgendwelche Vorteile, ist keine von ihnen für uns als Bündnispartner geeignet. Weder muss die imperialistische BRD irgendeine Souveränität zurückerlangen dies ist ihr in den letzten 25 Jahren vollends geglückt, mehr noch, sie raubt anderen Staaten selbst die Souveränität, beispielsweise durch das EU-Schuldenregime. Noch brächte uns eine Anlehnung der herrschenden Klasse an einen neuen Partner Vorteile oder gar ein solches Wunderding wie Sicherung des Friedens unter imperialistischen Bedingungen.
Der sich abzeichnende Konflikt mit den USA wird kommen, wenn das deutsche Kapital im Bündnis keinen ausreichenden Nutzen mehr sieht, es ist nicht die Aufgabe der fortschrittlichen Kräfte, ihn zu forcieren oder herbeizusehnen. Ein nationalpazifistischer, an Neutralität Deutschlands interessierter Flügel der Monopolbourgeoisie, mit dem unter Eindruck der Existenz der UdSSR möglicherweise gemeinsame Etappenziele bestanden, existiert nicht mehr (irgendwo hin muss schließlich expandiert werden). Es gibt keine Frage, in der Interessengleichheit zwischen Herrschenden und Beherrschten besteht, erst recht nicht in der Außenpolitik. Der deutsche Imperialismus, seit jeher meisterhaft darin, aus einer Position der relativen Schwäche den Antiimperialisten zu geben, ist auf Beutezug, egal, in welche Himmelsrichtung. Die Händel der Bourgeoisie sind nicht die unseren, die Freundschaften unter ihnen sind maskierte und organisierte Habgier, ihre Bündnisse sind nichts weiter als Deals unter Ganoven über die Aufteilung des Geraubten. Frieden lässt sich nicht durch Abkehr von den USA und Hinwendung nach Russland erreichen, sondern nur durch Beseitigung der Triebfeder, die dem Kapitalismus innewohnt und die ihn, per definitionem, aggressiv und expansiv macht: Dem Zwang zur Vermehrung des Kapitals und des Profits.
Die Eskalation des Konfliktes um die Ukraine markiert den Beginn des Endes der nichtkriegerischen Neuverteilung Europas nach der Konterrevolution 1989-91. Es handelt sich um eine Zäsur, denn Russland kann dem westlichen Streben nicht mehr tatenlos zusehen, ohne daran zu zerbrechen, während die westlichen imperialistischen Mächte kaum noch eine stabile und langfristige Strategie zustande bekommen die zwischenimperialistischen Widersprüche eskalieren zusehends. Der deutsche Imperialismus bescheidet sich längst nicht mehr mit Brocken der Beute, die im Windschatten der USA abfallen, er agiert autonom und eigennützig.
Vom Sturz des deutschen Imperialismus als konkretem und praktisch gewordenem Internationalismus sind wir weit entfernt. Selbst die Blockade von Rüstungstransporten oder die Sabotage von Waffenlieferungen in die Ukraine, in den Irak oder in irgendein anderes Land stehen außerhalb unserer Möglichkeiten. Es sind die Aufständischen im Donbass, die mit Söldnern, Neonazis und Landsknechten fertig werden müssen. Unter Eindruck dieser Umstände haben wir Strategie und Taktik zu beraten. Wir haben, nach Stand unserer Möglichkeiten, die herrschende Klasse anzugreifen, unseren Hauptfeind, den deutschen Imperialismus ins Visier zu nehmen. Jeder ihm zugefügte Schaden ist zu unserem Nutzen, jede Schwächung, die er erfährt, erleichtert unseren Kampf und den unserer Verbündeten, nimmt Druck von denjenigen, die durch seine Expansionsgelüste bedrängt werden. Die Debatte zur Einschätzung Russlands oder der Ukraine bleibt, wenn all dies nicht in Rechnung gestellt wird, eine theoretische Ersatzhandlung.
Dieser Artikel wird - als stark gekürzte Version - in der Zeitschrift Theorie und Praxis, Ausgabe #37, erscheinen.
Anmerkungen:
1 Spiegel Online, 6.3.2014, Putin und der legitime Präsident.
2 Der gescheiterte Staat von nebenan.
3 vgl.: Fred Schmid: Der Zucker-Zar Poroschenko und die Oligarchen-Herrschaft in der Ukraine.
4 David X. Noak, Machtverschiebung im Donbass.
5 vgl.: Rainer Rupp: Ziel Moskau, in: junge Welt vom 15.5.2014.