TRIPOLIS/BERLIN (19.12.2011) - Aktuelle Recherchen belegen schwere Kriegsverbrechen der NATO in Libyen. Bei den Militärschlägen dort, die Deutschland zwar nicht aktiv unterstützte, aber praktisch tolerierte und die in Berlin als Modell für zukünftige Kriegsoperationen gehandelt werden, seien dutzende Zivilisten zu Tode gekommen, berichtet die US-Presse. Die gegenwärtig nachweisbare Zahl sei dabei mit Gewissheit zu niedrig. Menschenrechtsorganisationen beklagen, der gesamte Libyen-Krieg sei "in eine Atmosphäre der Straflosigkeit gehüllt". Weitere Folgen mit verheerender Wirkung sind heute offen erkennbar. So bekämpfen sich in Libyen zahllose Milizen, die den Nationalen Übergangsrat nicht anerkennen. Islamistische Kräfte gewinnen an Stärke. Das alles besitzt für Berlin erhebliche Bedeutung, weil Libyen stets einer der größten Erdöllieferanten der Bundesrepublik war - und dabei auch einer der bedeutendsten Produktionsstandorte deutscher Erdölkonzerne. Geraten wichtige deutsche Interessen in Libyen langfristig in Gefahr, dann ist mit entsprechenden Reaktionen Berlins zu rechnen.
KriegsverbrechenAktuelle Recherchen der US-Presse belegen schwere Kriegsverbrechen der NATO in Libyen. Wie die New York Times am Wochenende berichtete, kann sie nachweisen, dass bei diversen Angriffen westlicher Luftwaffen dutzende libysche Zivilisten ums Leben kamen. Man müsse schon jetzt von "mindestens 40, vielleicht mehr als 70" Unbeteiligten sprechen, die bei den Bombardements zu Tode gekommen seien, heißt es. Dabei sei diese Zahl wohl noch zu niedrig, weil nur ausgewählte Zielgebiete des NATO-Beschusses überhaupt hätten untersucht werden können. Bislang hatte die NATO stets behauptet, sie habe beim Beschuss libyscher Ortschaften keine Zivilisten getötet. Dies stößt bei Menschenrechtsorganisationen inzwischen auf scharfe Kritik. Die "ganze Kampagne" sei "in eine Atmosphäre der Straflosigkeit gehüllt", urteilt etwa ein Vertreter von Human Rights Watch.
1 Die offenkundigen Kriegsverbrechen wiegen nicht zuletzt deswegen schwer, weil der Libyen-Krieg im Westen als Modell für künftige Militärschläge gegen missliebige Regierungen gehandelt wird - gerade auch in Berlin (german-foreign-policy.com berichtete
2]).
Rivalisierende MilizenDie Verheerungen, die der Libyen-Krieg auch jenseits brutaler Kriegsverbrechen angerichtet hat, werden mittlerweile deutlich erkennbar. Der sogenannte Nationale Übergangsrat, der im Westen als offiziell vorzeigbares Aushängeschild für die äußerst unterschiedlich orientierten "Aufständischen" genutzt wurde und auch von der Bundesregierung im Rahmen ihrer Einflussarbeit hofiert wird, hat, wie eine jetzt publizierte Analyse der International Crisis Group einräumt, mitnichten die Kontrolle über das kriegszerstörte Land - und hatte sie nie.
3 Tatsächlich nutzte die NATO zahllose weithin voneinander unabhängig operierende Milizen als Bodentruppen; die Milizen wurden zum Teil vom Westen, zum Teil von anderen Staaten ausgerüstet und geführt, in hohem Maße von Qatar (german-foreign-policy.com berichtete
4). Eine Konsequenz ist, dass heute nach vorsichtigen Schätzungen 100, nach anderen Berechnungen 300 Milizen gegeneinander rivalisieren; mehr als 125.000 Libyer sollen unter Waffen stehen. Gewalttätige Auseinandersetzungen, oft mit Todesopfern, finden täglich statt. Jüngste Berichte über die Kämpfe um den Flughafen Tripolis zeigen das Eskalationspotenzial. Auslöser der Berichte war, dass immense Geldsummen - mehrere Milliarden libysche Dinar - über den Flughafen ins Land gebracht werden sollten. Sitz der Gelddruckerei ist Berichten zufolge Deutschland.
5Libyens ÖlDie anhaltenden Kämpfe, deren Ende gegenwärtig wegen der geringen Akzeptanz gegenüber dem Nationalen Übergangsrat bei der Mehrheit der Libyer nicht absehbar ist, stellen für Berlin und für die deutsche Wirtschaft auf lange Sicht ein ernstes Problem dar. Libyen war lange Zeit der größte, zuletzt noch der zweitgrößte bundesdeutsche Erdöllieferant außerhalb Europas; allein 2010 bezog Deutschland Rohöl sowie Mineralölerzeugnisse im Wert von drei Milliarden Euro von dort, zehn Prozent seiner Importe. Libyen gehörte zu den wenigen Staaten, in denen deutsche Konzerne eine starke Stellung auf dem Erdölsektor innehatten. Die BASF-Tochter Wintershall fördert bereits seit 1958 libysches Öl, hat dazu nach eigenen Angaben über zwei Milliarden US-Dollar investiert und ist einer der größten Produzenten vor Ort.
6 2003 stieg auch RWE Dea in die Erdölförderung in Libyen ein. Wintershall musste seine Libyen-Tätigkeiten im Februar 2011 unterbrechen, profitierte allerdings davon, dass rund 370 libysche Konzernmitarbeiter die Produktionsstätten während der Kämpfe überwachten und instandhielten, so dass es im Oktober möglich war, die Erdölförderung wieder zu starten. Noch liegt die Fördermenge bei nur rund einem Fünftel des Vorkriegsvolumens, doch soll sie in den kommenden Wochen systematisch hochgefahren werden. Dies allerdings setzt voraus, dass es in den Fördergebieten nicht zu Kämpfen oder zu Anschlägen kommt - eine unklare Perspektive.
Fast unbegrenzte MöglichkeitenGefährdet sind durch die Kämpfe auch die Bemühungen der Bundesegierung, deutschen Firmen den Wieder- oder auch den Neueinstieg in Libyen zu erleichtern. Mitte Oktober reiste eigens dazu der Bundeswirtschaftsminister nach Tripolis, um dort mit Vertretern des Nationalen Übergangsrats zusammenzukommen. "Die Bundesregierung steht an der Seite des neuen Libyen", erklärte Rösler bei dieser Gelegenheit.
7 Die bundeseigene Außenwirtschaftsagentur Germany Trade and Invest hatte anlässlich der Reise eine Hintergrundbroschüre für die Wirtschaftsdelegation erstellt, die den Wirtschaftsminister begleitete. Libyen sei ein Land mit "fast unbegrenzten Möglichkeiten", hieß es darin: Außer Öl gebe es "ungehobene Schätze (...) zum Beispiel im Tourismus oder beim Ausbau der erneuerbaren Energien". Einer "wirtschaftlichen Blüte" und deutschen Profiten stehe eigentlich "nichts im Wege" - freilich "eine nachhaltige Befriedung des Landes vorausgesetzt".
8 Ebendiese "Befriedung" steht allerdings völlig in den Sternen.
Fundamentale RolleDabei kommt erschwerend hinzu, dass der Westen im Libyen-Krieg gerade auch auf islamistische Milizen setzte, um Muammar al Gaddafi zu stürzen. Wie die International Crisis Group einräumt, hat nicht nur die Libyan Islamic Group, der libysche Ableger der Muslimbruderschaft, während der Kämpfe gegen Gaddafi stark an Einfluss gewonnen.
9 Prominenz hat vor allem die Libyan Islamic Fighting Group erreicht, die mittlerweile - PR-adäquat - als Libyan Islamic Movement for Change firmiert und in den 1990er Jahren als Zusammenschluss von Afghanistan-Veteranen entstanden ist. Ihr Emir Abdelhakim Belhaj wirkt seit August aufgrund der herausragenden Rolle seiner Miliz bei der Einnahme von Tripolis als Militärchef der libyschen Hauptstadt. Wie mächtig der islamistische Einfluss bei den unterschiedlichen Milizen ist, ist noch schwer abzuschätzen. Die Crisis Group gibt die Einschätzung eines säkularen Beobachters wieder, der urteilt: "Die Islamisten kontrollieren die Straße." Ein bekannter Prediger vermutet, islamistische Kräfte würden "eine fundamentale Rolle beim Aufbau des neuen Libyen spielen". Die Parallelen zum Bündnis des Westens mit Islamisten in Afghanistan, als man dort gegen die sowjetischen Truppen und die prosowjetische Regierung Krieg führte, sind offensichtlich.
10 Die Folgen dieses Bündnisses für Afghanistan sind bekannt.
Anmerkungen:
1 In Strikes on Libya by NATO, an Unspoken Civilian Toll; www.nytimes.com 17.12.2011
2 s. dazu Die Libyen-Strategie
3 Holding Libya Together: Security Challenges after Qadhafi; International Crisis Group, Middle East/North Africa Report No 115, 14.12.2011
4 s. dazu Kriegsdrohungen gegen Iran (II) und Zu Gast bei Freunden
5 Libyan scramble for £100bn in assets fractures the peace at Tripoli airport; www.guardian.co.uk 17.12.2011
6 s. dazu Aktionsplan Libyen
7 Rösler: "Das neue Libyen nach Kräften unterstützen"; www.bmwi.de 11.10.2011
8 Libyen im Fokus. Chancen und Projekte. Reise des Bundesministers Dr. Philipp Rösler mit Wirtschaftsdelegation nach Tripolis am 12. und 13. Oktober 2011, www.gtai.de
9 Holding Libya Together: Security Challenges after Qadhafi; International Crisis Group, Middle East/North Africa Report No 115, 14.12.2011
10 s. dazu Der religiöse Faktor, Doppelrezension: Der politische Islam im Westen und Rote Linien