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Die Zahl der Depressionskranken steigt dramatisch. Das ist der Kern des Krankenhausreports 2011 der größten gesetzlichen Ersatzkasse Barmer GEK.

In den vergangenen 20 Jahren wuchs die Zahl der wegen psychischer Störungen aufgenommenen Patienten in den Krankenhäusern insgesamt um 129 Prozent. Besonders stark gestiegen ist laut Report die Zahl der Klinikpatienten mit Depressionen und anderen affektiven, stimmungsbeeinflussenden Störungen. 2010 verbrachten über doppelt so viele Menschen wegen Depressionen im Krankenhaus wie zehn Jahre zuvor. Der Zuwachs belief sich seit dem Jahr 2000 auf rund 117 Prozent. Für ihren Report hatte die Barmer GEK als größte gesetzliche Versicherung die Daten von mehreren Millionen Patienten für 2010 ausgewertet. Bürgerliche Medien wie der Spiegel betonen, dass dies nicht nur ein medizinisches, sondern auch ein "volkswirtschaftliches" Problem sei. Die stationäre Verweildauer psychisch Kranker pro Fall sei zwar reduziert worden - auf 31 Tage -, aber angesichts steigender Fallzahlen hätten es die Kassen dennoch mit steigenden Kosten zu tun. Das erscheint unlogisch. Denn im Jahr 1990 hielt sich ein psychisch Erkrankter noch durchschnittlich 45 Tage in einer Klinik auf - eine Reduktion der Verweildauer um fast ein Drittel. Die naheliegende Frage, ob die Behandlungseffekte sich dann etwa auch um ein Drittel gebessert hätten - was kaum glaubhaft wäre - wird nicht gestellt.

Wirklich überraschend sind diese Daten jedoch nicht. Insgesamt haben die psychischen Störungen schon vor 2010 mehr Krankenhaustage verursacht als die Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Oft wird den Kranken nicht wirklich geholfen. Die Rückfallquote ist enorm hoch. Nicht einmal die Hälfte einer Gruppe von 1 200 befragten Patienten mit Depression fühlte sich ein knappes Jahr nach dem Krankenhausaufenthalt "gut" bis "ausgezeichnet". Die Statistiker verweisen in diesem Zusammenhang darauf, dass bei einer Hüftgelenks-Operation sich ein Jahr danach fast 80 Prozent "gut" fühlen.

Für diese Unterschiede gibt es mehrere Gründe, über die aber nicht wirklich informiert wird. Zum ersten ist die Rückfallquote wegen der schlechten ambulanten Weiterversorgung der aus den Kliniken deutlich zu früh Entlassenen nicht ausreichend gewährleistet. Die Wartezeiten bei den ambulant niedergelassenen Psychotherapeuten sind für 70 Prozent der Entlassenen mit drei Monaten tatsächlich einfach zu lang. Warum das aber so ist, und warum an der unzureichenden personellen Ausstattung bei der ambulanten Psychotherapie nichts geändert wird, wird in diesem Zusammenhang nicht diskutiert. Auch nicht von der Barmer GEK.

Im Gegenteil; ihr Vorstandssprecher, Rolf-Ulrich Schlenker, erklärte auf der Pressekonferenz ausdrücklich die Lösung bestehe nicht in einer Aufstockung der Zahl niedergelassener Therapeuten. Eher sollten sogar kürzere Therapien verschrieben werden. Dabei sprach er von einer 50-prozentigen Kürzung der "üblichen" 80 Behandlungsstunden. Woher er diese Vorgaben nimmt, ist dem Praktiker schwer erklärbar. Verhaltenstherapeuten bekommen in der Regel schon heute selten mehr als 40 Stunden genehmigt. Zu wenig genutzt würden Gruppentherapien, erklärte Schlenker, die teils sogar besser wirkten als Einzelgespräche. Auch hier unterschlägt Schlenker einen wesentlichen, den finanziellen, Aspekt. Gruppentherapien sind für die Kassen billiger.

So beißt sich bei der Frage nach den Gründen für den "Drehtür-Effekt" die berühmte Katze selbst in den Schwanz. Die stationäre Behandlung wird aus Kostengründen verkürzt, dies wird sogar als Erfolg gefeiert; die Zahl der Behandler im ambulanten Setting bleibt auf dem niedrigen Niveau festgeschrieben; die Stundenzahlen für die ambulante Weiterversorgung sollen dann auch noch halbiert werden. Hauptsache, es wird "gespart".

Deshalb ist es reine Propaganda, wenn die Barmer GEK zu einem "Wandel der Versorgungsstrukturen für eine stärkere ambulante therapeutische Begleitung" rät. Dafür sollten dann die psychiatrischen Institutsambulanzen an den Klinken mehr genutzt werden. D. h., hier geht es ebenfalls um einen wesentlich finanziellen Faktor: die schon verkürzten stationären Behandlungszeiten, die durch die zentralen Vorgaben der sogenannten "DRGs (Diagnosis Related Groups) vorgegeben wurden, führen zu finanziellen Einbußen für die Krankenhäuser. Durch die Umschichtung vom ambulanten in den teilstationären Sektor - die Ambulanzen bei den Kliniken - soll ein Teil der Verluste wieder eingespielt werden. Auf Kosten der ambulant tätigen, niedergelassenen Behandler.

Auch der zweite Grund bleibt in seiner Konsequenz zu wenig beachtetet: Eine ergänzende Studie der Barmer GEK ergab nämlich, dass sich 69 Prozent der Patienten, die wegen psychischer Probleme in Kliniken behandelt wurden, etwa ein Jahr nach der Entlassung subjektiv besser oder gar sehr viel besser fühlten. Patienten erleben den kurzzeitigen Effekt eines Klinikaufenthalts unmittelbar nach der Entlassung subjektiv offenbar positiver, als er tatsächlich ist. Das liegt daran, dass in der kurzen Zeit der stationären Behandlung zwar eine relative Besserung stattfinden kann, dass dem aber sowohl konzeptionelle Hindernisse, die sich aus dem Krankheitsverständnis ergeben, als auch strukturelle Mängel des Gesundheitssystems entgegenwirken. Das führt dazu, dass bereits nach Ablauf eines Jahres 59 Prozent der Behandelten wieder Anzeichen einer mittleren bis schweren Depression aufweisen. Für diese Begleitstudie befragte die Krankenkasse 1 731 Patienten, davon 1 256 mit Depressionen.

Schließlich wird der dritte - der wichtigste - Grund kaum problematisiert und nur verklausuliert angedeutet. Es heißt im Krankenhausbericht: Die Patienten kämen nach der stationären Therapie in die "gewohnten Lebensumstände" zurück. Dort existierten aber häufig die "Konflikte" weiter, die zum Krankheitsausbruch beitrügen. Doch was sind diese nebulösen "Lebensumstände"? Die Studie hüllt sich weitgehend in Schweigen oder begnügt sich mit Andeutungen, denen nicht weiter auf den Grund gegangen wird. Eine seltene kleine Ausnahme ist der Bonner Generalanzeiger (GA), der auf Expertenmeinungen verweist, wonach "viele seelische Erkrankungen wie Depressionen oder das Burnout-Syndrom ... ihre Ursache am Arbeitsplatz" haben.

Die "GA"-Kommentatorin wird sogar noch ein bisschen deutlicher: es sei "unser stetig sich beschleunigender Alltag, der seine Opfer fordere", heißt es bei ihr zunächst etwas sybillinisch. Doch dann spricht sie eine der wichtigsten Ursachen doch an. "Das ist das Paradoxe an der modernen Lebenswelt: Die einen haben eine Erwerbsarbeit, fühlen sich aber dort oft wie im Hamsterrad, und die anderen verlieren ihren Job und finden aus Altersgründen nicht wieder zurück in die Arbeitswelt. Beide Gruppen sind für psychische Erkrankungen anfällig, ebenso wie bei Kindern heutzutage schon auffallend häufig seelische Störungen auftreten."

Hätte sie von "Kapitalismus" statt "moderner Lebenswelt", von "kapitalistischer Lohnarbeit" statt von "Erwerbsarbeit", von "kapitalistischer Ausbeutung" statt von "Hamsterrad" gesprochen wären die Zusammenhänge klarer geworden.

Also muss ich es hier wohl für sie nachtragen.

 
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