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Von Gerd Graw

Es reicht! Das Maß ist voll für die Beschäftigten und ihre Interessenvertretungen beim Schienenfahrzeug-Hersteller Alstom in Salzgitter. Seit mehr als einem Jahr kriselt es bei Alstom. Davon betroffen sind der Standort Mannheim genau wie die Transport-Unternehmen in Spanien und Italien. Im Focus der Pariser Konzernzentrale aber steht das Werk Salzgitter. Von den 2 400 Arbeitsplätzen sind 1 400 akut gefährdet. Der Konzern will das Kernstück der Fabrik in Salzgitter-Watenstedt - den Stahlrohbau - nach Polen verlagern. Dadurch würden rund 700 Arbeitsplätze vernichtet. Betriebsrat und IG Metall befürchten jedoch, dass sich die Zahl verdoppelt. Denn die derzeit beschäftigten Leiharbeiter stehen in Paris genauso "Auf dem Zettel" wie die Übernahme der Auszubildenden und die über Werkverträge beschäftigten Kolleginnen und Kollegen.

Das Argument der Konzernleitung: "Salzgitter schreibt rote Zahlen". Geflissentlich verschwiegen wird jedoch, dass dies trotz Vollauslastung der Produktion geschieht. Für Sachkenner liegen die Gründe hierfür an der fehlenden Entscheidungsvollmacht der örtlichen Geschäftsführung und der zentralen Steuerung durch die französische Unternehmenszentrale. Da bangen 1 400 Kolleginnen und Kollegen um ihre Jobs - und das Management versucht, die dramatische Lage mit Spielereien schön zu reden. "Was die Alstom-Spitze der Belegschaft hier zumutet ist unwürdig, unklug, ist inkompetent", stellt der wirtschaftspolitische Kommentator der "Braunschweiger Zeitung" Markus Schlesag fest. Weil das so ist, verhandeln Betriebsrat und IG Metall seit Monaten mit der Konzernleitung über ein Zukunftspaket. Danach kann die Produktivität erhöht, das Werk wettbewerbsfähiger und der Standort Salzgitter über das Jahr 2012 hinaus gesichert werden. Doch diese konstruktiven Vorschläge der Interessenvertreter wurden "in den Wind geschlagen".

Wie paradox, inkonsequent und chaotisch von Paris aus regiert und dirigiert wird, liegt auf der Hand. Der Markt boomt. Während europaweit die Auftragsbücher bei den Schienenfahrzeugbauer gefüllt sind - ob bei Siemens, Bombardier oder Stadtler - beteiligt sich Alstom oft gar nicht an lukrativen Ausschreibungen. "Das ist ein Irrenhaus" schimpft ein Vertrauensmann. "Die bereiten hier Massenentlassungen bereits für Jahresende vor, wollen aber noch schnell mal 40 Leiharbeiter einstellen und glauben ernsthaft, der Betriebsrat würde das dulden und ihnen außerdem noch Überstunden und Wochenendarbeit genehmigen".

Das ist zwar alles absurd, aber so wird Angst, wird Unsicherheit gesät. Was passiert überhaupt? Wann passiert es? Wer ist betroffen? Fragen der Beschäftigten und keine Antworten. Das ist auch so gewollt. Das ist die alte Methode des Kapitals: Teile und Herrsche! Entsolidarisieren! Bisher ist ihnen das in Salzgitter nicht gelungen. Hier stehen die Zeichen auf Widerstand! "Die Kollegen sind sauer, haben die Schnauze voll" - stellt der 2. Bevollmächtigte der IG Metall Horst Ludewig fest. Seit Februar verhandeln IG Metall und Betriebsrat permanent mit der Konzernleitung. Fast jede Verhandlungsrunde blieb bisher ergebnislos.

Der Alstom-Vorschlag in der letzten Verhandlungsrunde zur "detaillierten Standortsicherung durch höhere Flexibilität und Wirtschaftlichkeit" beinhaltet: Längere Arbeitszeiten, weniger Lohn, Abschaffung von Prämien, Weihnachtsund Urlaubsgeld. Das sind, so die IG Metall, Einbußen von 45 Prozent. Denn: Wenn - wie geplant - die Arbeitszeitkonten bis zu 800 Überstunden gesammelt werden, bedeutet das die 48-Stunden-Woche.

"Wir wollen Problemlösungen, keine Kündigungen", fordern Kolleginnen und Kollegen bei den wiederholt - nach jeder gescheiterten Verhandlung - stattfindenden Betriebsversammlungen außerhalb der Fabrik, vor dem Verwaltungsgebäude oder im Stadtzentrum Salzgitter. Sie tragen mit dieser wirksamen Methode ihren Protest und ihre Forderungen auf die "Straße" und erfahren so wachsende Solidarität in der Region und weit darüber hinaus. Über und durch zahlreiche Gespräche mit betrieblichen Interessenvertretern und der IG Metall, über Solidaritätsbeweise während der Protestveranstaltungen wurde das Standortproblem Alstom in die Politik befördert. Die örtlichen Parteien, die Mitglieder des Stadtrates und der Oberbürgermeister engagierten sich in vielfältiger Weise. Der Niedersächsische Landtag stimmte einstimmig einem Antrag der Linksfraktion zu, der die Landesregierung und die Kanzlerin auffordert, bei der Alstom-Zentrale in Paris tätig zu werden. Durch einen weiteren Antrag im Landtag auf "Teilverstaatlichung" - nach dem Beispiel der Verträge mit Volkswagen und der Salzgitter-Hütte - will die Linksfraktion den Einfluss und die Verantwortung der Politik bewirken und die Alleinvertretungsherrschaft von Paris einschränken. Nach einem ausführlichen Informationsgespräch mit dem Betriebsrat und der VKL-Leitung vor Ort ist auch die Europa-Abgeordnete Sabine Wils in Brüssel und Straßburg tätig geworden. Die IG Metall und der Betriebsrat haben im Beisein des Niedersächsischen Ministerpräsidenten Mc. Allister, des Oberbürgermeisters der Stadt Salzgitter Frank Klingebiel, dem IG-Metall-Bezirksleiter Hartmut Meine und anderen Vertretern des gesellschaftlichen Lebens eine bundesweite Unterschriftenaktion unter dem Motto: "Zukunft für Alstom Salzgitter" gestartet. Ziel der Aktion ist: Kunden von Alstom, Unternehmen der Region, die Verkehrsminister der Länder und des Bundes- sowie Landtags- und Bundestagsabgeordnete aufzufordern und den Schienenfahrzeugbauer zu drängen, endlich verbindliche und lösungsorientierte Verhandlungen zu führen.

"Wenn Paris so weiter macht, dann ist das eine Sache, die nicht nur die Alstom-Mitarbeiter, sondern die ganze Region betrifft", stellte der Betriebsratsvorsitzende Bernd Eberle auf der letzten Protestveranstaltung fest. Der Appell, sich anzuschließen, richtet sich an alle relevanten Personen, Organisationen, Kirchen, Sozialverbände, Parteien, Schüler und Sportvereine.

Höhepunkt des Widerstandes: Ein Sternmarsch zu einer Protestkundgebung auf der von allen Zulieferanten stark frequentierten Kreuzung und Zufahrten zu fast allen Großbetrieben der Region. Dabei - Delegationen der Hütte, von Volkswagen, MAN, von Bosch der SMAG, von Stoll und vielen anderen. Eine Region macht mobil!


 
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