Einen beispiellosen politischen Skandal mit Verletzten aufgrund von Nazi- und Polizeiübergriffen im Gefolge muss der Innenausschuss im Berliner Abgeordnetenhaus aufklären, das im September neu gewählt wird. Die schweren öffentlichen Vorwürfe richten sich gegen ein bisher so nicht gekanntes Paktieren der Berliner Polizei - die ebenfalls Verletzte in ihren Reihen zählt - für eine bis zuletzt geheim gehaltene Demonstration von 120 Neonazis in Kreuzberg. Für den bundesweit mobilisierten Durchsetzungsversuch unter dem Motto "Wahrheit macht frei - für die Erfassung der Nationalität bei Straftaten" waren am 14. Mai bekannte rechte Funktionäre aus Westdeutschland mit "Kameraden" angereist. Letztlich verhinderte es nur die mutige Blockade von 500 kurzfristig mobilisierten Antifaschisten - in einem spektrenübergreifenden Bündnis bis in die ver.di-Jugend hinein -, dass der Aufmarsch auf dem Mehringdamm auch nur einen einzigen Meter zurücklegen konnte.
Dennoch zeigt sich die Hauptstadtpresse schockiert über die verbalen und körperlichen Angriffe der Nazis unter den Augen der 800 Polizisten - im U-Bahnhof Mehringdamm gegen ahnungslose Fahrgäste mit vermutetem Migrationshintergrund, auf der Straße und im Rücken der Antifa-Sitzblockade mit gezielten schweren Hieb- und Trittattacken vor allem gegen Köpfe. Wenn die Polizei zunächst dabei überhaupt eingriff, dann ausschließlich mit Pfefferspray gegen die Blockierer und mit wahllosen Festnahmen. Unmittelbare Hilfeleistungen für die Verletzten überließ sie den Passanten am Straßenrand.
Dagegen schreiben die glimpflich davongekommenen Neonazis in einem Online-Forum: "Wir haben taktisch probiert, was möglich war." Wie der Berliner Tagesspiegel nahelegt, gehörten zu diesen rechten Möglichkeiten offenbar auch spätere Angriffe gegen die Polizei selbst, und zwar aufgrund folgenschwerer Entscheidungen ihrer Einsatzleitung. Nachdem sie die Gegner irrtümlich erst zusammen gebracht und dann wieder mühsam getrennt hatte, eskortierte sie die Nazis mit kostenfreier Hilfe der Berliner Verkehrsbetriebe an den Stadtrand.
Bei kleineren Spontanaufmärschen in Rudow lieferte sie sich ein Katz-und-Maus-Spiel mit ihnen. Der ermittelnde Staatsschutz bezog vorerst einen nächtlichen Zwischenfall im nordöstlichen Hohenschönhausen ein, weil dort zwei 28-jährige von unbekannten, flüchtigen Tätern zusammengeschlagen wurden. In diesem Licht und im Vorfeld der vorangegangenen Auseinandersetzungen am Mehringdamm erscheint die Passivität der Polizei bereits grob fahrlässig, als von ihrer Begleitung unbehelligt Rechte auf ihrem ursprünglichen Weg zum Stellplatz ein Kinderfest des Berliner Moscheevereins am Hermannplatz durchstreiften.
Der Aufruf zur Zivilcourage ist für den Berliner Innensenator und seine Polizei lediglich eine Floskel, stellt die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschisten für das Gegenbündnis fest. Sie fordert eine öffentliche Klärung seitens der paktierenden Polizei und der politisch Verantwortlichen für die gewalttätigen Übergriffe der Nazis auf Migrantinnen und friedliche Gegendemonstranten. Denn mit der "einvernehmlich" versuchten Taktik zugunsten des Aufmarschs - Durchsetzen durch Verschweigen - sollte offensichtlich "jedweder antifaschistische Gegenprotest zur laufenden Nazi-Hetzkampagne gegen Migrantinnen und alles, was nicht in ihr nazistisches Weltbild passt, schon von vornherein verhindert werden. Dabei hätte der eindeutige Bezug zu dem Nazi-Spruch ´Arbeit macht frei´, der auf den Eingangstoren der Konzentrationslager Auschwitz und Dachau stand und dessen praktische Konsequenz millionenfacher Mord war, jederzeit ein Verbot rechtfertigen müssen."
SPD-Innensenator Körting räumte inzwischen ein, dass sich die Nazigegner "bis auf wenige Ausnahmen" friedlich verhalten haben. Das skandalöse Einsatzkonzept der zu spät handelnden Polizei ist jetzt auch wegen über 60 Verletzter insgesamt in der Kritik. Nicht die Polizei, sondern der rechte Anmelder Schmidtke hat die Veranstaltung aufgelöst, die die Antifa im Keim erstickte. "So wie diese Demonstration abgelaufen ist, fällt sie nicht mehr unter den grundrechtlichen Schutz der Versammlungsfreiheit", meint Körting. Bei künftigen Naziaufmärschen werde der "Gewaltexzess der Rechtsextremisten" in eine Verbotsprüfung mit einfließen. Der Berliner Fraktionschef der Partei "Die Linke", Udo Wolf, äußert sich ähnlich.