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GDANSK/BERLIN (23.05.2011) - Proteste von NS-Opferverbänden begleiten die aktuelle Reise der Präsidentin des Bundes der Vertriebenen (BdV), Erika Steinbach, nach Polen. Steinbach ist am gestrigen Sonntag zu Gesprächen mit Vertretern der deutschsprachigen Minderheit in Gdańsk eingetroffen und will heute ihren einst von der Wehrmacht besetzten Geburtsort Rumia besuchen. In Polen wird sie schon seit Jahren heftig kritisiert, weil aus dem von ihr geführten BdV heraus immer wieder revisionistische Forderungen gegenüber dem Land erhoben werden. Die Organisationen der deutschsprachigen Minderheit, mit denen Steinbach in Gdańsk zusammenkam, unterhalten enge Beziehungen auch zum rechten Flügel der deutschen Umgesiedeltenverbände, der mit der äußersten Rechten in Deutschland in Verbindung gebracht wird. Steinbach wird nicht zuletzt vorgeworfen, sie habe im Jahr 1990 als Abgeordnete im Bundestag ihre Zustimmung zur deutsch-polnischen Grenze verweigert. Tatsächlich ist selbst laut Auffassung des höchsten deutschen Gerichts die deutsch-polnische Grenze nicht unantastbar.

Sklavenhalter

Begleitet vom Protest polnischer NS-Opfer ist die Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen (BdV), Erika Steinbach, am gestrigen Sonntag in Gdańsk eingetroffen. Steinbach wird in Polen seit Jahren heftig kritisiert, weil aus dem BdV heraus immer wieder revisionistische Forderungen gegen Polen erhoben werden. Diese Forderungen reichen vom Verlangen nach einer Annullierung der Gesetze, die nach dem Zweiten Weltkrieg die Umsiedlung der Deutschen vorschrieben, über einen Ruf nach Restitution oder Entschädigung für zurückgelassene Güter bis hin zum Versuch, die Restitution per Gerichtsverfahren zu erzwingen.1 Steinbach selbst hat zudem mit provozierenden Äußerungen von sich reden gemacht. So hat sie im Sommer 2008 unter Verweis auf die Deutschen erklärt, die nach dem Zweiten Weltkrieg zu Aufbauarbeiten in Osteuropa herangezogen wurden: "Mittel-, Ost- und Südosteuropa war über viele Jahre auch nach dem Krieg noch eine gigantische Sklavenhalter-Region."2 Nicht zuletzt ist auch in Polen bekannt, dass Steinbach 1990 dem Deutsch-Polnischen Grenzbestätigungsvertrag im Bundestag die Zustimmung verweigert hat. Ein Besuch Steinbachs in offizieller BdV-Funktion gilt daher in Polen weithin als Provokation.

Proteste

Steinbach will heute ihren Geburtort Rumia bereisen, der 1939 von der Wehrmacht besetzt worden war. Berichten zufolge hat sie einen Besuch auf dem örtlichen Friedhof, auf dem etwa 200 von der Wehrmacht getötete polnische Soldaten begraben liegen, abgelehnt; dazu hatte die Bürgermeisterin von Rumia sie ausdrücklich eingeladen.3 Ihr Ansinnen, stattdessen Wielka Piaśnica zu besuchen, stößt bei polnischen NS-Opferverbänden auf erkennbaren Unmut; Steinbach wolle damit vor allem die Medienöffentlichkeit erreichen, heißt es in Gdańsk. Im Wald bei Piaśnica hatten SS-Männer in den Jahren 1939 und 1940 zwischen 10.000 und 13.000 Menschen umgebracht, vor allem Polen, aber auch Deutsche, Tschechen und staatenlose Juden. Der Verband der von den Deutschen 1940 aus Gdynia bei Gdańsk vertriebenen Polen erklärt, man könne zwar wegen des hohen Alters der Verbandsmitglieder nicht gegen Steinbachs Besuch auf die Straße gehen, spreche sich aber trotzdem dagegen aus. Steinbachs Vorhaben, Blumen an einer Gedenktafel in Gdynia niederzulegen, die an Deutsche erinnert, die 1945 auf der Flucht übers Meer umkamen, stößt ebenfalls auf Widerstand: Der Pfarrer der Kirche, in der die Tafel angebracht ist, verweigert Steinbach den Zutritt. Die Kirche stehe für politische Aktivitäten nicht zur Verfügung, heißt es zur Erklärung.

"War es ein Überfall?"

Die Gedenktafel, die an den Untergang des deutschen Schiffes Wilhelm Gustloff erinnert, ist erst am 30. Januar dieses Jahres enthüllt worden - von der örtlichen Organisation der deutschsprachigen Minderheit, mit der Steinbach am gestrigen Sonntag zu Gesprächen zusammentraf. Die Vereine der deutschsprachigen Minderheit in Polen unterhalten nicht nur Beziehungen zu den offiziellen Stellen der deutschen Umgesiedeltenverbände, sondern auch zu deren rechtem Flügel, der mit der äußersten Rechten in Deutschland in Verbindung gebracht wird. So nahmen Delegierte der deutschsprachigen Minderheit in Gdańsk im November 2010 an einem mehrtägigen Adventstreffen teil, das der Bund Junges Ostpreußen organisiert hatte, die offizielle Jugendorganisation der Landsmannschaft Ostpreußen. Der Bund Junges Ostpreußen hatte nur ein Jahr zuvor für sein "Herbstseminar" einen Vortrag angekündigt, der den deutschen Angriff auf Polen am 1. September 1939 unter der Überschrift behandelte: "War es ein Überfall? Der Beginn des deutsch-polnischen Krieges". Bei diesem Herbstseminar waren ebenfalls Deutschtums-Aktivisten aus Polen zugegen, außerdem ein Ministerialdirektor a.D. aus dem Bundesinnenministerium und ein bekannter Aktivist der sogenannten Neuen Rechten.4 Bereits kürzlich ist bekannt geworden, dass andere polnische "Deutschtums"-Organisationen ihre Kontakte zur Schlesischen Jugend ausbauen wollten. Der Bundesverband der Schlesischen Jugend wurde unlängst von der Mutterorganisation, der Landsmannschaft Schlesien, wegen seiner engen Beziehungen zu neonazistischen Kreisen abgestoßen (german-foreign-policy.com berichtete5).

Kein Verzicht

Dass ungeachtet solcher Rechtsaußen-Kontakten und von Steinbachs Provokationen stets die Nähe zwischen dem deutschen Staat und den Umgesiedeltenverbänden gewahrt bleibt, zeigt nicht nur die Tatsache, dass die "Deutschtums"-Aktivitäten in Gdańsk vom Institut für Auslandsbeziehungen aus Stuttgart6 unterstützt werden und der deutsche Generalkonsul in Gdańsk BdV-Präsidentin Erika Steinbach auf mehreren Stationen ihres aktuellen Besuchs begleitet. Die inhaltliche Nähe zwischen den Überzeugungen im "Vertriebenen"-Milieu und den Rechtspositionen des deutschen Staats lässt beispielhaft ein Beschluss des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1992 erkennen. Darin äußert sich das höchste deutsche Gericht zu Entschädigungsfragen, aber auch zum Status der Grenze zwischen der Bundesrepublik und Polen. Über die Frage, ob den Umgesiedelten Entschädigungen zustünden, heißt es in dem Beschluss, es sei "mit der Grenzbestätigung" durch den deutsch-polnischen Grenzvertrag aus dem Jahr 1990 "keine Anerkennung früherer polnischer Enteignungsmaßnahmen seitens der Bundesrepublik Deutschland verbunden". Einen wie auch immer gearteten "Verzicht auf etwa bestehende Eigentumsrechte oder Ansprüche deutscher Privatpersonen" gebe es nicht. Den Umgesiedelten sei dank der sorgfältigen Formulierungskunst deutscher Juristen "all das geblieben, was sie zuvor hatten: ihrer Ansicht nach bestehende, von polnischer Seite aber nicht anerkannte und daher praktisch nicht durchsetzbare Rechtspositionen" und "die Hoffnung auf Rückgängigmachung oder zumindest Entschädigung für vor langer Zeit erlittene und ihrer Auffassung nach zu Unrecht zugefügte Verluste".7

Jedenfalls faktisch

Über die deutsch-polnische Grenze respektive den Deutsch-Polnischen Grenzbestätigungsvertrag vom 14. November 1990 erklärt das oberste deutsche Gericht: "Der Vertrag bestätigt nur die jedenfalls faktisch seit langem zwischen Deutschland und Polen bestehende Grenze."8 Dazu stellen Experten fest, dass der zugrunde liegende Vertrag zwischen der Bundesrepublik und Polen als "Grenzbestätigungsvertrag" und nicht als "Grenzanerkennungsvertrag" formuliert wurde - aus juristischer Sicht ein wichtiger Unterschied. Der Deutsch-Polnische Grenzbestätigungsvertrag sei seinem Inhalt nach ein "Gewaltverzichtsvertrag", erklärte vor Jahren der Vorsitzende der Deutsch-Polnischen Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland im Gespräch mit dieser Redaktion9; Gewaltverzicht aber sei nicht gleichbedeutend mit bedingungsloser Anerkennung. Eine präzise Lektüre des Deutsch-Polnischen Grenzbestätigungsvertrages lässt erkennen, dass die eigentlichen Provokationen im deutsch-polnischen Verhältnis weniger in der Person der BdV-Präsidentin liegen, die dem Grenzbestätigungsvertrag im Jahr 1990 ihre Zustimmung verweigerte, als vielmehr in den Rechtspositionen des deutschen Staates selbst.


Anmerkungen:
1 s. dazu s. dazu Heute ist es das Gleiche, Pflichtthema "Vertreibung", Auf der Lauer und 60 Jahre Aggressionen
2 s. dazu Sklavenhalter
3 Polen sperren sich gegen Erika Steinbachs Besuch; www.welt.de 21.05.2011
4 Götz Kubitschek, Mitgründer des Instituts für Staatspolitik, das in der Tradition der sogenannten Konservativen Revolution steht. Die Konservative Revolution wird in der Geschichtswissenschaft als "Wegbereiterin des Nationalsozialismus" eingestuft, ihre heutigen Anhänger werden häufig als "Neue Rechte" bezeichnet.
5 s. dazu Ostfahrten
6 s. dazu Modernes Deutschlandbild
7, 8 Bundesverfassungsgericht (3. Kammer des Zweiten Senats), Beschluß vom 5.6.1992 (2 BvR 1613/91 u.a.), EuGRZ 1992, 306 (ZaöRV 54 [1994], 476). S. dazu Kein Verzicht
9 s. dazu Grenzfragen und Interview mit Christoph Koch


 
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