Im September 2010 sind zwei Jugendstudien veröffentlicht worden. Die erste Studie wird von dem Ölmulti Shell bezahlt, die zweite Studie von dem Möbelgiganten Ikea. Obwohl sich beide nicht nur durch die Sponsoren unterscheiden, sondern auch durch den Umfang und die Art der Befragung, bieten sie dennoch interessante Hinweise und Informationen zu Jugendbewusstsein und zum Lebensgefühl Jugendlicher.
Für die Shell-Studie wurden Anfang des Jahres bundesweit mehr als 2 500 Jugendliche im Alter von 12 bis 25 Jahren zu ihrer Lebenssituation, ihren Glaubens- und Wertvorstellungen sowie ihrer Einstellung zur Politik befragt. Bei der Rheingold-Studie wurden 100 zweistündige psychologische Tiefeninterviews mit Jugendlichen aus Köln, Berlin, München und Hamburg (40 % Auszubildende, 10 % Studenten, 30 % Angestellte, 20 % Arbeiter) durchgeführt.
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Die Jugend von heute, zwischen Repolitisierung und Biedermeierwelt. |
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Der Spiegel verkündete für die Shell-Studie 2010 frohgemut: "Deutschlands Jugend ist optimistisch, interessiert sich für Politik, glaubt an die eigene Karriere - das ist die gute, aber nur die halbe Wahrheit. Denn die Kluft zwischen den Schichten wird (...) tiefer, bei den sozial Schwachen von 12 bis 25 wächst die Resignation. (...) Deutschlands Jugend ist optimistisch, sie hat trotz Wirtschaftskrise, trotz der lange düsteren Prognosen den Mut nicht verloren. 59 % blicken zuversichtlich in die Zukunft, neun Prozentpunkte mehr als noch 2006 und damit vor der Wirtschaftskrise." (Spiegel, 14. 9. 2010) Die Frankfurter Rundschau berichtete parallel über die Rheingold-Studie: "Panische Absturzangst, massiver Anpassungswille sowie Verachtung für alle, die abgerutscht sind: Das Bild, das das Marktforschungsinstitut Rheingold von der Jugend im Jahr 2010 zeichnet, ist nicht gerade beruhigend. Denn sie zeigt eine Jugend, die alles als brüchig empfindet. Die Folge ist eine "angstvolle und ungeheuer anpassungswillige" Jugend, eine "Generation Biedermeier." (FR, 12. 9. 2010) In den Medien wurde die Shell-Studie als der Beweis gehandelt, dass nun auch die junge Generation an den kommenden Aufschwung und ihre Zukunft im Kapitalismus glaubt. Denn "die Globalisierung macht jungen Menschen immer weniger Angst. Sie verbinden mit ihr vor allem die Freiheit, in ferne Länder zu reisen, im Ausland studieren und arbeiten zu können. Sie bringen Globalisierung zunehmend mit wirtschaftlichem Wohlstand in Verbindung." (Spiegel, 15. 9. 2010) Allerdings schmälert ein Wermutstropfen diese positiven Ergebnisse. Dies musste auch der bürgerliche Blätterwald eingestehen: Ein roter Faden durchzieht die gesamte Shell-Studie: die soziale Spaltung der Jugend. Die "sozial Abgehängten" (!) - so Studienleiter, Mathias Albert - lassen sich nicht von dem Optimismus der Mehrheitsjugend hinsichtlich der eigenen Lebensmöglichkeiten anstecken. Er stellt sogar einen Frust-Schub fest.
Zwischen Ellenbogengesellschaft und sozialen NetzwerkenNach der Studie hat sich seit 2002 die Hauptkennzeichnung der Jugend als "pragmatisch" nicht verändert. Auffällig bleibt - so die Untersuchung - eine pragmatische Umgehensweise mit den Herausforderungen in Alltag, Beruf und Gesellschaft. Prägend ist dabei Leistungsorientierung und das Suchen nach individuellen Aufstiegsmöglichkeiten im Verbund mit einem ausgeprägten Sinn für soziale Beziehungen im persönlichen Nahbereich. (Shell, S. 28) Übersetzt kann dies auch die Deutung nahe legen, dass die Ellenbogengesellschaft sich im Verhalten Jugendlicher widerspiegelt. Die Stichworte sind hier Leistungsorientierung und individuelle Aufstiegsmöglichkeiten. In der Familie und im Freundeskreis erleben sie noch Solidarität und Gemeinschaft - in der Gesellschaft nicht mehr. In diesen Kontext passt auch der wachsende Stellenwert der Familie. Drei Viertel der Jugendlichen stellen für sich fest, dass "man eine Familie braucht, um wirklich glücklich leben zu können". (Shell, S. 17) Dies unterstreicht die Erfahrung, dass gerade in Krisenzeiten die Familie oft der einzig verlässliche Bezugspunkt ist und ihre Rolle für den einzelnen Menschen wächst. Dennoch erweitern nicht wenige Jugendliche diese Netzwerke in die Zivilgesellschaft hinein. Weniger aus politischen Gründen, auch wenn die Wirkung auf sie selbst und für die Gesellschaft durchaus von politischer Bedeutung ist. Ein Beispiel ist vielleicht die Entwicklung und Organisation der verschiedenen Jugendszenen. Der 18 jährige Sam aus Stuttgart erklärte: "Rechtsradikale - Mit denen habe ich ziemliche Probleme. Gerade die Rechtsradikalen meinen dann halt auch, ja komm, Emo-Treffen, machen wir alle kaputt und so, gell. Die kommen in die Szene, aber wir sind halt 200 Leute. Wenn einer von dene meint, sich gegen einen von uns auflehnen zu müssen, sofort stehen 100 Leute hinter einem..." (Shell, S. 297)
Repolitisierung der Jugend?"Unsere Studie zeigt, dass wir am Beginn einer Repolitisierung der Jugend stehen. Diese politischere Generation wird sich ihre Themen suchen. Wir können nur spekulieren, um welche Themen - Bildung, Umwelt, Kernkraft oder etwas ganz anderes - es sich drehen wird", sagt Studienleiter Albert in einem Interview. Aber dieses wachsende aktuelle Interesse ist nicht mit den hohen Ergebnissen der Jugendstudien in den 70er und 80er Jahren zu vergleichen. Das politische Interesse hängt heute stark vom Bildungsgrad, der sozialen Schicht und vom politischen Interesse der Eltern ab. Interessant ist, dass das politische Interesse bei den 12 bis14-Jährigen auffällig gestiegen ist. Die Bereitschaft bei Jugendlichen an politischen Aktivitäten teilzunehmen sieht wie folgt aus: 77 % würden bei einer Unterschriftensammlung mitmachen, 54 % können sich vorstellen aus politischen, ethischen oder Umweltgründen eine Ware zu boykottieren, 44 % würden sich an einer Protestversammlung (Demonstration) beteiligen, 39 % können sich vorstellen bei einer Bürgerinitiative mitzumachen, 31 % sind bereit, sich kurzfristig im Internet zu informieren und sich zu beteiligen, 17 % können sich vorstellen in einer Partei oder politischen Gruppe mitzuarbeiten. (Shell, S. 119)
22 % haben eine eher höhere Bereitschaft und 18 % sogar eine hohe Bereitschaft, politisch aktiv zu werden. Weibliche Jugendliche sind häufiger bereit, sich an politischen Aktionen zu beteiligen. Die befragten Jugendlichen ordnen sich politisch wie folgt ein: 9 % sind links, 29 % eher links, 29 % in der Mitte, 15 % eher rechts und 3 % rechts. Politisch interessierte Jugendliche und höher gebildete Jugendliche ordnen sich etwas weiter links, politisch desinteressierte und weniger gebildete Jugendliche hingegen eher weiter zur Mitte hin ein. (Shell, S. 20) Befragt wurde die Zufriedenheit mit der Demokratie als Staatsform. 83 % der Jugendlichen sprechen sich dafür aus. (Shell, S. 137) Deutet man/frau dies hier im Sinne der staatlichen Verfasstheit also Demokratie versus Diktatur bzw. Faschismus, so ist das Ergebnis zunächst positiv zu bewerten. Allerdings weisen arbeitslose Jugendliche und Jugendliche ohne Ausbildungsabschluss die niedrigste Demokratiezufriedenheit auf. Jeder 2. Jugendliche in den östlichen Bundesländern ist mit der Demokratie, so wie diese konkret besteht, unzufrieden. Dies kann ein Anknüpfungspunkt für Linke sein. Die Unzufriedenheit dieser Jugendlichen kann in diesem Zusammenhang auch als Einfallstor für faschistisches Gedankengut und deren politische Ziele dienen. Als prägend hat die Shell-Studie Toleranz gegenüber anderen bei Jugendlichen festgestellt. Im Detail differenziert sich dies wieder - wie sollte es auch in der bundesdeutschen Gesellschaft anders sein. 48 % der Jugendlichen haben keine Vorbehalte gegenüber einer gesellschaftlichen Gruppe.
Waren 2002 noch 46 % für und 29 % gegen eine Beteiligung an internationalen Bundeswehreinsätzen, so sind 2010 nur noch 37 % dafür und 53 % dagegen. Dies heißt, dass hier eine Umkehrung stattgefunden hat! Bei den jungen Frauen ist die Ablehnung noch deutlicher als bei den befragten jungen Männern. Die Shell-Studie hebt hervor, dass der Bildungsstand eine untergeordnete Rolle für die Ablehnung der Bundeswehreinsätze im Ausland bei den Jugendlichen hat. (Shell, S. 26)
Verdrossenheit gegenüber Politik, Wirtschaft und FinanzenDie Studie kommt zum Ergebnis, dass "die für Jugendliche immer noch typische Politikverdrossenheit sich inzwischen mit einer zunehmenden Verdrossenheit gegenüber Wirtschaft und Finanzen paart." (Shell, S. 21) Gewachsen ist der Vertrauensverlust bei den großen Unternehmen. Erstmals wurde das Vertrauen in die Banken abgefragt. Die Banken haben bei den Jugendlichen jedes Vertrauen verloren - sie bilden das Schlusslicht. Im Gegenzug ist das Ergebnis nicht unwichtig, dass das Vertrauen der Jugendlichen in die Gewerkschaften nicht gelitten hat, sondern auf einem leicht überdurchschnittlichen Niveau geblieben ist.
Jugendliche sind nach der Studie gesellschaftlichen Prozessen gegenüber aufgeschlossen. 70 % meinen, dass es, gerade weil heute vieles in Arbeitswelt und Gesellschaft falsch laufe, nötig sei, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Nur 4 % meinen, es wäre im Leben am Vernünftigsten, einfach im Strom der anderen mit zu schwimmen. (Shell, S. 29) Überdurchschnittlich schlecht werden allerdings Parteien, große Unternehmen, Kirchen und last but not least die Bundesregierung eingestuft. Ein nach wie vor großes Vertrauen - warum auch immer - bringen Jugendliche der Polizei und Gerichten entgegen. Ob dies aktuell nach dem Polizeieinsatz in Stuttgart auch noch so ist, kann bezweifelt werden. Auch das Vertrauen in die Europäische Union liegt nach der Studie über dem Durchschnitt. Die Macher der Studie führen dies darauf zurück, dass Europa als Idee und Perspektive grundsätzlich befürwortet wird.
Angstmacher für Jugendlicher sind: 1. Schlechte Wirtschaftslage/Armut (70 %), 2. Arbeitsplatzverlust/keine Ausbildung finden (62 %), 3. Terroranschläge (61 %), 4. Umweltverschmutzung (60 %), 5. Klimawandel (57 %), 6. Krankheit (53 %), 7. Krieg in Europa (44 %), 8. Ausländerfeindlichkeit (40 %), 9. Bedrohung/Gewalt (40 %), 10. Diebstahl (31 %), 11. Zuwanderung (27 %) (Shell, S. 140) Der schon zitierte Studienleiter zeichnet in einem Interview das Bild einer leistungsbereiten Jugend, die klassische Werte der Achtundsechziger wie Selbstverwirklichung mit konservativen Einstellungen zu Familie und Freundschaft kombinieren. Er kommt zu dem Schluss, dass Jugendliche an ein geschlossenes Wertesystem oder Weltbild schon lange nicht mehr glauben, an Ideologien auch nicht. Für ihn versuchen sich Jugendliche in einer Gesellschaft zu behaupten, die ihnen ziemlich schlechte Bedingungen bietet. Er findet es erstaunlich, dass sie dagegen kaum rebellieren. Für ihn sind sie auch keine neukonservativen Biedermänner. (Spiegel, 15. 9. 2010)
Durch Angstpanik zum jugendlichen Biedermeier?Die Rheingold-Studie zieht ein andres Fazit: Das für die Jugend typische Wechselspiel zwischen Ordnungs-Suche und der anarchistischen Rebellion gegen alle kulturellen Ordnungen sei derzeit blockiert. Risiken, große Träume, Zukunftsutopien usw. werden durch diese Blockade in Schach gehalten und gedämpft. Der Generationskonflikt als Motor gesellschaftlicher Entwicklung wird nicht offen ausgetragen. (Pressemitteilung Rheingold, 9. 9. 2010) Die Studie liefert eher psychologische Erklärungsmuster für das Verhalten und die Einstellung von Jugendlichen. So nennt die Studie für diese Blockade verschiedene Ursachen: Die Lebensentwürfe der interviewten Jugendlichen lassen eine Biedermeierwelt durchscheinen, in der das zentrale Lebensziel darin besteht, ein kleines Haus, mit Garten oder eine Eigentumswohnung zu besitzen. Das Lied von Peter Fox über das "Haus am See" wird daher als Hymne an diesen Lebensentwurf von Jugendlichen beispielhaft genannt. Psychologisch verständlich wird diese Anknüpfung die an Ideale des Biedermeier erinnernde Lebenshaltung vor dem Hintergrund, dass alles als brüchig empfunden und die Lebenswirklichkeit ständig erschüttert wird. Das Lebensgefühl der Jugendlichen ist von Krisen geprägt, sowohl im gesellschaftlichen (Wirtschafts- und Finanzkrise) wie im familiären Rahmen. Diese ständige Unsicherheit und Zerrissenheit führt bei leistungsbereiten Jugendlichen zu einer "schwelenden Absturz-Panik". Die Jugendlichen sind daher sehr emsig und leistungsbereit. Sie investieren viel Zeit in ihre Ausbildung. Bereits in der Schulzeit beginnen sie sich ein ganzes Arsenal von (zertifizierten) Fertigkeiten, Ausbildungen und Kompetenzen zu beschaffen: Praktika, Fremdsprachen-Kenntnisse, Auslands-Aufenthalte, Zusatz-Qualifikationen gelten als unerlässliche Fahrkarten in eine erfolgreiche Zukunft. Die Studie spricht von "Kompetenz-Hamstern" - allerdings werden diese Kompetenzen häufig sehr wahllos, maßlos oder schematisch gehamstert. Immer bleibt die Sorge, es könnte noch eine Qualifikation fehlen.
Die entstehende Wut auf das gesellschaftliche Chaos kann jedoch oft nicht kanalisiert werden. Ihre ständigen Absturz-Ängste versuchen die Jugendlichen aber auch zu bannen, indem sie sich strikt von allen Menschen abgrenzen, die bereits abgestürzt sind. Den Opfern und Verlierern der Gesellschaft wird nicht Mitleid oder Solidarität entgegengebracht, sondern Verachtung und Schmähung. Hartz IV ist für die Jugendlichen zum Sinnbild eines Loser-Schicksals geworden, das jedem jederzeit drohen kann.
Der Leiter des Institutes, Stephan Grünewald erklärte gegenüber der FR, dass ihn die Ergebnisse der Studie an die Sarrazin-Kontroverse erinnern. Sie biete "Erklärungshilfen" dafür, warum Sarrazin so viel Zuspruch erhalte, obwohl er Migranten für ihre Integrationsprobleme selbst verantwortlich mache, Sozialdarwinismus betreibe.
Beide Studien kommen zu unterschiedlichen, aber auch übereinstimmenden Ergebnissen. Die Shell-Studie ist von beiden wohl die repräsentativste Studie. Übereinstimmend beschreiben sie Jugendliche als leistungsorientiert. Beide Studien verweisen auf die soziale Spaltung. Für die Rheingold-Studie manifestiert sich diese gesellschaftliche Spaltung auch im Bewusstsein Jugendlicher. In der einen Shell-Studie ist die Tendenz gewachsen, sich einzumischen, in der anderen Rheingold-Studie stehen die Zeichen auf Rückzug. Übereinstimmend wird allerdings davon ausgegangen, dass in den kommenden Jahren gravierende Veränderungen im Jugendbewusstsein zu erwarten sind. Unterm Strich kommt es für uns darauf an, die positiven Ansätze aufzugreifen und zu verstärken. Selbst die Rheingold-Studie kommt zu dem Schluss: "Allerdings zeichnet sich für die nächsten Jahre eine Suche nach klaren oder fundamentalen Wahrheiten, Leitlinien oder Gewissheiten ab, die aus dem Gefühl der Beliebigkeit und Zerrissenheit herausführen. Die Jugend 2018 wird wieder entschiedener und klarer Position für ihre Lebensutopie beziehen." (Rheingold, 9. 9. 2010)