Es gibt einige unabdingbare Voraussetzungen, unter denen ein politisch Denkender und Handelnder sich als Kommunist bezeichnen kann. Es ist nicht ehrenrührig (wenn auch aus Gründen der hier vertretenen Theorie falsch), anders zu denken, und es gibt andere ehren- und anerkennenswerte Handlungsmotive; auch bei Kommunisten mischt sich die wissenschaftliche Einsicht in die allgemeinen Gesetze der Geschichte mit der gefühlsmäßigen Empörung über das Unrecht der Ausbeutung, der Unterdrückung, der Entmenschlichung und mit der Angst vor dem drohenden Untergang der Menschheit oder mindestens ihrer Zivilisation. Weil Kommunisten religiöse, moralische, psychologische Beweggründe des Kampfes gegen die Übelstände der Welt respektieren und manche von ihnen teilen, können^ sie ohne Anspruch auf Dominanz politische Bündnisse zur Verfolgung gleicher Ziele eingehen, und sie dürfen erwarten, daß in solchen Bündnissen auch ihre Ansichten und Beweggründe respektiert werden. Was sie als Kommunisten jedoch auszeichnet, ist dies, daß sie ein systematisch ausgearbeitetes rationales Erklärungsmuster für die Welt haben, die sie verändern wollen, daß in diesem Erklärungsmuster die Orientierung für ihr politisches Handeln eingeschlossen ist und daß dieses Erklärungsmuster auf keine außerweltlichen und unerkennbaren Gründe für den Weltlauf zurückgreifen muß, um in sich schlüssig zu sein.
Dieses Erklärungsmuster ist marxistisch-leninistische Philosophie und politische Ökonomie, die Weltanschauung des wissenschaftlichen Sozialismus. Über sie ist mit jedem offen und mit Gründen zu diskutieren. Untereinander diskutieren Kommunisten aber auf dem akzeptierten Boden dieser Theorie und entwickeln sie weiter. In der Weiterentwicklung muß ein Fundament erhalten bleiben, sonst wird es eine andere Weltanschauung. Darum seien am Anfang einige Selbstverständlichkeiten zu Thesen zusammengefaßt, die natürlich nur ein dürres und fragmentarisches Gerippe der reichen Theoriegehalte des Marxismus-Leninismus sind, und die den Ausgangspunkt für die Überlegungen dieses Kapitels bilden. Wer hier nicht mehr zustimmt, hat zum mindesten die Pflicht zu begründen, warum er sich dennoch als Kommunist versteht.
10 Thesen zur marxistisch-leninistischen Theorie1. Kommunisten unterscheiden sich von anderen Anhängern des Sozialismus dadurch, daß sich ihre Vorstellungen von der zukünftigen Gesellschaftsordnung und dem Weg, der zu ihr führt, auf eine Theorie der Geschichte begründen, auf den historischen Materialismus, dessen Kern von Marx, Engels und Lenin ausgearbeitet wurde. Der Marxismus-Leninismus ist eine auf praktische politische Realisierung angelegte und durch die Erfahrungen der Praxis inhaltlich bestimmte und angereicherte Theorie, die ihre Ausbildung in den Kämpfen der Arbeiterbewegung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts erhalten hat und die Erfahrungen dieser Kämpfe in sich speichert. Sie spiegelt diese Kämpfe in ihrer Entwicklung - auch in Kontroversen und Widersprüchen. Ihr Realitätsgehalt besteht gerade darin, daß sie in diesen Kämpfen konsequente Positionen bezogen hat - sicher zuweilen auch falsche, die korrigiert werden mußten, die aber doch nicht ohne Gründe eingenommen wurden, aus denen wie aus den Fehlem zu lernen ist.
2. Als eine Theorie der Geschichte (die sich auf ein umfassendes Verständnis des Naturprozesses und des Zusammenhangs von Natur und Geschichte, die Dialektik der Natur, den dialektischen Materialismus stützt), kann der Marxismus-Leninismus seinem Wesen nach kein Dogma sein, sondern eine Theorie, die die geschichtlichen Veränderungen in sich verarbeitet. Wo sie zum bloßen Dogma wurde, hat sich das sehr schnell durch Realitätsverlust gerächt. Verlust an schöpferischer Theorieentwicklung zieht praktische Fehlentwicklungen und Fehlentscheidungen nach sich. Das hat es in der kommunistischen Bewegung gegeben, ebenso wie es immer auch die schöpferische Weiterentwicklung gegeben hat.
3. Daß eine Theorie entwicklungsfähig ist, heißt nicht, daß sie beliebig verändert werden kann. Der Marxismus-Leninismus wäre nicht mehr er selbst, würde er die Erkenntnis abschreiben, daß alle Geschichte eine Geschichte von Klassenkämpfen ist. Grundlage seiner wissenschaftlichen Einschätzung von historischen Prozessen ist die Einsicht, daß deren entscheidende Triebkraft die Entwicklung der Produktivkräfte in den ihnen entsprechenden Produktionsverhältnissen ist und daß die Entwicklung der Produktivkräfte fortschreitend in Widerspruch zu dem in den Institutionen der Gesellschaft festgeschriebenen Typus von Produktionsverhältnissen gerät; die Analyse einer bestehenden gesellschaftlichen (und das heißt auch: politischen) Situation und der ihr angemessenen politischen Strategie beruht auf dieser Einsicht und schließt sowohl die Erfassung der allgemeinen Grundlage und Wesensstruktur einer Gesellschaftsformation als auch ihrer zahlreichen besonderen Durchsetzungsmechanismen und Widersprüche ein. Unverzichtbar ist für den Marxismus-Leninismus auch die Dialektik in ihrem Doppelaspekt als universelles Prinzip des Zusammenhangs der Wirklichkeit in den Bewegungsformen von Widersprüchen und als Methode der Darstellung dieser widersprüchlichen Bewegungsformen. Das bedeutet: Die Wirklichkeit ist eine Einheit von Vielen, sie verändert sich ununterbrochen, ihre Bewegung ergibt sich aus einer gegenseitigen Einwirkung von Widersprüchen aufeinander, in dieser Bewegung entsteht qualitativ Neues aus der Summe quantitativer Veränderungen. Schließlich gehört zum Grundbestand marxistisch-leninistischer Theorie, daß das gesellschaftliche Bewußtsein durch das gesellschaftliche Sein bestimmt wird, daß in ihm sich die Widersprüche des gesellschaftlichen Seins ausdrücken, daß die Menschen innerhalb dieser Widersprüche ihre jeweils durch Interessen, Traditionen, Erfahrungen und Erkenntnisse bestimmte individuelle Position beziehen und schließlich daß es Grundwidersprüche gibt, die sich in Klassenlagen manifestieren.
4. Die Geschichte verläuft nicht als schicksalhafter Prozeß, dem die Menschen hilflos ausgeliefert sind. Die Menschen sind immer die handelnden Subjekte der Geschichte. Jedoch wird ihr Handeln, wenn es ausschließlich oder vorwiegend durch private Interessen und individuelle Beweggründe geleitet ist, von den nicht durchschauten Strukturen der Gesellschaft aufgesogen und in seinen endgültigen Auswirkungen hinter dem Rücken der Individuen verändert; darum genügt der gute Wille allein nicht, um die Welt besser zu machen; bloße Moralität ist kein politisches Prinzip (so wenig wie Almosen die Gründe der Armut beseitigen); es ist nur durch ein theoretisches Verständnis des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft zu vermitteln. Darum kann eine politische Bewegung, die die Welt nach einer Zielvorstellung verändern will, nicht erfolgreich sein, wenn sie ihre Strategie und Aktionen einfach aus der Resultante oder dem Durchschnitt individueller Meinungen und Handlungen herleitet; das zu glauben, hieße die Irrtümer des bürgerlichen Demokratie Verständnisses reproduzieren. Die gezielte Veränderung der Gesellschaft, sei es durch planmäßige Reformen mit dem Endziel revolutionärer Umgestaltung oder durch Umsturz in einer revolutionären Situation, bedarf einer theoriegeleiteten Organisation, also einer politischen Partei, die vom gemeinsamen Willen ihrer Anhänger getragen ist. Damit der Wille aller wirklich zu einem gemeinsamen aktionsfähigen Willen werden kann, müssen die Einzelnen sich der Organisationsform unter Zurückstellung ihrer individuellen Besonderheiten einfügen - natürlich nicht, ohne vorher am Prozeß der gemeinsamen Willensbildung mitgewirkt zu haben; das ist das Prinzip der Disziplin, das für alle revolutionären Parteien eine simple Überlebens- und Wirkungsbedingung ist.
5. Der Grundwiderspruch aller Klassengesellschaften ist die private Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums - in Form welcher Produktionsverhältnisse auch immer. Jede Veränderung der Produktionsverhältnisse hat in der bisherigen Geschichte nur die Aneignungsstrukturen verschoben und das Schwergewicht der Nutzung des gesellschaftlichen Reichtums von einer Klasse auf eine andere verlagert. Dabei wurden die Ausbeutungsmechanismen immer abstrakter und undurchsichtiger. Diese Abstraktion hat unter dem Kapitalismus und insbesondere in seiner hochentwickelten, staatsmonopolistisch abgesicherten und multinational organisierten Form ein Ausmaß erreicht, in dem der allergrößte Teil der Menschheit von der Aneignung und Entscheidung über die Nutzung des Mehrwerts ausgeschlossen ist und die Mechanismen der Akkumulation des Kapitals, der Erzeugung und Reinvestition des Mehrwerts sich auch gegenüber den Entscheidungsträgem verselbständigt haben. Das Klasseninteresse der Klasse, auf deren Kosten und gegen deren Selbstbestimmung die Verwertung des gesellschaftlichen Reichtums stattfindet, besteht in der Änderung der Eigentumsverhältnisse - und weil sie die einzige Klasse ist, die diesen Aneignungsstrukturen entgegensteht, ist die
Herstellung einer neuen gesellschaftlichen Ordnung ihre historische Mission; dazu gehört, daß sie zu deren Erfüllung die Möglichkeit besitzt. Aus der Entgegensetzung von Kapital und Arbeit bestimmt sich die Klasse, die das Kapitalverhältnis aufzuheben in der Lage ist, als Arbeiterklasse (wie auch immer die auseinandergehenden Merkmale der Arbeit sich auf diese Klassenzugehörigkeit auswirken mögen). Um sich als Klasse (und nicht nur als bloße Summe von Individuen) zu verwirklichen und damit zum Subjekt dieser historischen Mission zu werden, bedarf es des Bewußtseins von der Lage, in der sich die Menschen überhaupt und die Angehörigen der Arbeiterklasse befinden: Klassenbewußtsein. Es versteht sich von selbst, daß Klassenbewußtsein sich auf verschiedenen Ebenen von Erfahrungen bildet, keineswegs durch die Theorie zuerst oder gar allein; aber immer muß es durch die Theorie von der Klassengesellschaft und vom Klassenkampf fundiert sein.
6. In der wissenschaftlich-technischen Revolution stellt sich eine neue Qualität des Entwicklungsstandes der Produktivkräfte her. Einerseits können Wissenschaft und Technik heute allgemein hohen materiellen Wohlstand garantieren, wenn durch die Institutionen der Gesellschaft Aneignungs- und Verteilungsgerechtigkeit hergestellt würde. Andererseits bieten Wissenschaft und Technik die Möglichkeiten zur Vernichtung der menschlichen Gattung und großer Teile der Natur; ja, die Menschlichkeit des Menschen ist durch genetische oder psycho-physische Manipulation bedroht. Die kapitalistische Form der Produktionsverhältnisse, die die Akkumulation des Kapitals und die private Verfügungsgewalt und Aneignung zum Bewegungsgesetz des gesellschaftlichen Lebens machen, kann diesen Widerspruch nicht lösen. Sie steigert ihn vielmehr zu hundertmillionenfachem Massenelend (3. Welt), zu ständig wachsender Kriegsgefahr und zunehmender Verkümmerung der menschlichen, in Vernunft und freier Entfaltung der Anlagen sich verwirklichenden Persönlichkeit (mentale Verelendung). Nur eine sozialistische Gesellschaft gibt die Perspektive einer menschenwürdigen Zukunft der Menschheit.
7. In der Perspektive auf den Kommunismus verbinden sich so die objektiven Gesetze der Geschichte, die die Gesetze der Reproduktion der menschlichen Lebensbedingungen sind, mit dem subjektiven Streben jedes einzelnen nach Selbstverwirklichung und Glück. Selbstverwirklichung ist jedoch nicht denkbar ohne Beziehungen zu und Rücksicht auf die Mitmenschen; sie ist nicht das Faustrecht des Individuums auf Kosten der anderen, sondern hat ihr Fundament in der Einsicht, daß der einzelne nur er selbst sein kann, wenn er in Solidarität mit den anderen ist. Solidarität und Bewußtsein der Gesellschaftlichkeit des Menschen, also eine sozialistische Moral, sind die Voraussetzung für das Programmwort des «Kommunistischen Manifests», «daß die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist». In kapitalistischen Gesellschaften bildet sich die neue Lebenseinstellung im Kampf um den Sozialismus heraus, in sozialistischen Gesellschaften im Kampf um den Aufbau des Sozialismus. Dieser Kampf bedarf einer Organisationsform; das theoretische Begreifen der sozialen und politischen Prozesse der Gegenwart und der Entwurf der Ziele für die Zukunft muß in der Organisation von den Menschen gemeinsam erarbeitet, ihnen vermittelt und in politisches Handeln umgesetzt werden. Die kommunistische Partei ist die Organisation, in der dies geschieht (einschließlich aller Irrtümer, die bei aktuellen Entscheidungen immer vorkommen); als der «Ort», an dem die Konzeption einer sozialistischen Zukunft entworfen und die gegenwärtige Strategie mit Blick auf diese Konzeption erarbeitet wird, ist sie die revolutionäre Avantgarde der Arbeiterklasse (auch in einer nichtrevolutionären Periode).
8. Die historische Mission der Arbeiterklasse und die Aufgabe der kommunistischen Partei hat also zwei Aspekte: Erstens verwirklicht die Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln und damit der privaten Aneignung des Mehrwerts die Veränderungen in den Produktionsverhältnissen, die notwendig geworden sind, weil die Entwicklung der Produktivkräfte in der wissenschaftlich-technischen Revolution nicht mehr durch private Verwertungsinteressen sinnvoll gesteuert und beherrscht werden kann; ein gesamtgesellschaftlicher Plan ist erforderlich. Zweitens verwirklicht die Arbeiterklasse in ihrem Kampf für Selbstbestimmung, gegen Ausbeutung, Unterdrückung und Unrecht das Ziel, eine Gesellschaft freier und gleicher Bürger zu errichten, in der jeder seine Anlagen allseitig entfalten kann; erst eine solche Gesellschaft, die kommunistische, garantiert «das Menschenrecht».
9. Auch nach dem Sturz der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse ist der Aufbau des Sozialismus und aus ihm hervorgehend des Kommunismus ein langer und widerspruchsvoller Prozeß. Vorsozialistische Bewußtseinsformen und Verhaltensweisen überdauern die institutionellen Veränderungen lange, zum Teil mehrere Generationen lang. Klassenpositionen verschwinden nicht auf einen Schlag; also dauert auch der Klassenkampf, vor allem der Kampf um die neue sozialistische Weltanschauung an; theoretische Arbeit und ideologische Klarheit gewinnen dabei ein großes Gewicht. Dies umso mehr, als der Weg zum Sozialismus nicht in aller Welt parallel und gleichzeitig verläuft, sondern von einigen sozialistischen Ländern unter den Bedingungen der Systemkonkurrenz gegangen werden muß, wobei die Metropolen des Kapitalismus ökonomisch noch überlegen sind. So hängt der Aufbau des Sozialismus wesentlich daran, daß die kommunistische Partei in der gesellschaftlichen Entwicklung sozialistischer Länder führend und für die anderen gesellschaftlichen Kräfte orientierend ist. Ihre Führungsrolle darf nicht in bürokratischen Mechanismen erstarren (welcher Gefahr sie jederzeit ausgesetzt ist), muß aber auch mit politischer Macht durchgesetzt und behauptet werden.
10. Es ist an die Einsicht von Karl Marx zu erinnern, «daß eine Gesellschaftsformation nie untergeht, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist». Der Kapitalismus erzeugt zwar heute die äußeren Widersprüche bei der Entwicklung der Produktivkräfte, bis hin zur Gefahr des Untergangs der Menschheit, insofern bereitet er in seinem Schöße den Übergang zum Sozialismus vor. Aber der Kapitalismus ist immer noch imstande, in seinem Rahmen die Produktivkraftentwicklung zu organisieren, wenn auch mit wachsenden Verlusten an Überlebensqualität; der Kampf gegen den Kapitalismus ist daher weltweit immer noch die Hauptaufgabe der Kommunisten.
Einheit, Pluralität, PluralismusNatürlich mag man darüber streiten, ob die theoretischen Grundlagen des Marxismus-Leninismus unter den Bedingungen des epochalen Wandels der Weltgesellschaft noch tragfähig sind. Immerhin wurde das «Kommunistische Manifest» vor 140 Jahren geschrieben, und Lenins Imperialismustheorie ist auch schon mehr als 70 Jahre alt. Weder Marx und Engels noch Lenin haben absehen können, welche Brisanz die Probleme, die man heute «global» nennt, bekommen würden. Es hat sich gezeigt, daß der Kapitalismus über Reserven und Strategien verfügt, die ihm erlauben, noch aus der allgemeinen Krise, in die er geraten ist und aus der kein Weg herausfühlt, die Mittel zum vorläufigen Überleben zu ziehen.
Die marxistische Theorie ist herausgefordert, auf diese historische Situation zu reagieren, auf die neu entstehenden Fragen Antworten zu finden - politökonomische, soziologische, psychologische, politische. Viele dieser Antworten werden zunächst Versuche sein, werden mit neuen Ideen experimentieren, werden in der Praxis erprobt und korrigiert werden müssen. Erkenntnis entwickelt sich nicht einfach nur durch Auffinden von Wahrheiten, sondern immer auch auf dem Umweg über Irrtümer und ihre Korrektur. Eine Pluralität von Konzepten gehört zum Fortschritt des Wissens. Aber unter einer Mehrzahl von Vorstellungen sind nicht alle gleich richtig und gleich realisierbar. Die Wahrheit ist nicht etwas Beliebiges, worauf man sich in einem Kompromiß zwischen widersprechenden Meinungen einigen könnte; sondern sie ist die richtige Darstellung der Wirklichkeit und der in ihr liegenden Möglichkeiten in unserem Denken. Darum ist erkenntnistheoretischer Pluralismus ein Widersinn, so wie die Pluralität der Meinungen notwendig für den Weg zur einen Wahrheit ist.
Die Entwicklung des Marxismus heute wird und muß sich in vielen, auch gegensätzlichen Gedankenansätzen vollziehen. Das heißt aber nicht, daß alles und jedes zur Disposition steht. Wissenschaftliche Erkenntnisse entwickeln sich auf vielfältige Weise innerhalb eines «Paradigmas» (wie die Wissenschaftstheoretiker das nennen), also innerhalb eines Erklärungsmusters und Rahmenmodells der Wirklichkeit. Dieses Rahmenmodell ist für den Marxismus-Leninismus durch eine Reihe von Basisvorstellungen definiert, deren wichtigste unsere zehn Thesen zusammenzufassen versuchen. Auch die neuere geschichtliche Entwicklung gibt keinen Grund, von diesen Basisvorstellungen abzugehen:
Der menschliche «Stoffwechsel mit der Natur«, die Erhaltung und Entwicklung der menschlichen Gattung geschieht durch Produktion, nicht bloß durch Konsumtion. Daher ist die Entfaltung der Produktivkräfte und ihre Organisation in Produktionsverhältnissen der bestimmende Faktor der Geschichte. Seit der Auflösung der Urgesellschaft werden die Produktionsverhältnisse durch Klassenspaltung bestimmt und verläuft die politische Geschichte als Klassenkampf. Der Klassenkampf bildet sich in weltanschaulichen Positionen und Auseinandersetzungen ab. Theoriefragen sind daher nicht abstrakte Wahrheitsfragen, sondern immer auch Klassenfragen. Die geschichtliche Wahrheit liegt bei der Klasse, die der Träger des gesellschaftlichen Fortschritts ist. Träger des gesellschaftlichen Fortschritts kann sie nur in organisierter Form sein. Die politische Organisation des Klassenkampfes der Arbeiterklasse ist die kommunistische Partei, die damit zum Medium wird, in dem sich die geschichtliche Wahrheit herausbildet und durchsetzt. Die Herausbildung der Wahrheit erfordert Pluralität der Aspekte, die Durchsetzung ist an die Einheit des Handelns und der handlungsorientierenden Perspektive gebunden. Darum kann es in einer die Einheit von Theorie und Praxis anstrebenden Partei keinen Pluralismus geben.
In dieser Reihe von Sätzen ist jeder folgende die logische Konsequenz des vorhergehenden; sie bilden ein System, und es kann nicht einfach der eine oder andere Satz herausgebrochen werden. Wer aus guten Gründen der Überzeugung ist, daß das in den ersten Sätzen angegebene Erklärungsmuster für Geschichte zutrifft und daß also das marxistische «Paradigma» nicht überholt ist, der muß auch seinen Wahrheitsbegriff, sein Organisationsverständnis und sein politisches Handeln daraus herleiten. Erneuerung der Theorie und der Partei wird sich auf dem Boden dieses marxistisch-leninistischen Grundverständnisses und im Rahmen dieses Modells vollziehen oder sie wird die Partei als kommunistische zerstören. Niemand entzieht sich ungestraft der Strenge der Logik eines Erkenntniszusammenhangs. Die politische Kapitulation der sozialdemokratischen Parteien vor dem Kapitalismus und ihre bloß reformistische Einfügung in sein System sind ein warnendes Beispiel; weder die Weltkriege noch der Faschismus konnten so verhindert werden.
Das ist ohne polemische Absicht gesagt, nur um die Grenzen zu bezeichnen, an denen sich die Identität einer kommunistischen Partei, das Selbstverständnis von Kommunisten bestimmt. Über lange Zeit wird innerhalb des Kapitalismus auch eine kommunistische Politik nichts anderes als Reformen anstreben und bewirken können. Nicht die «kleinen Schritte» und die «stückweisen Verbesserungen» an sich sind von Übel, sie sind der Inhalt und die Belohnung des politischen Alltags; was in ihnen erreicht wird, hat auch Rückwirkungen auf die jeweiligen Konkretisierungen des Femziels, das ja nicht bloß eine ausgedachte Utopie, sondern eine reale, also realisierbare Möglichkeit sein soll. Nur: Ohne Einsicht, daß das kapitalistische System -ungeachtet aller Reformen - seinen unmenschlichen, ausbeuterischen, krisenhaften Charakter nie verlieren wird, weil dieser zu seiner Systemverfassung gehört, endet der Alltagskampf mit seinen möglichen kleinen Erfolgen in Opportunismus oder Resignation. Illusionen zahlen sich nie aus - wer die Bildung des größten Rüstungskonzerns Europas im gleichen Augenblick, in dem von Abrüstungsvereinbarungen eine Sicherung des Friedens erwartet wird, nicht als ökonomisch-politische Realität ernst nimmt, hat das Augenmaß verloren; er läßt sich von dem kleinen, durchaus wichtigen Schritt einer Teilvereinbarung über die fortbestehende Haupttendenz und ihre Gefährlichkeit hinwegtäuschen.
Das ist nur ein Beispiel, das zeigen soll, wie entscheidend es für die politische Urteilsfähigkeit und Aktionsrichtung ist, die Augenblickssituation und Alltagsprobleme vom Standpunkt einer Erkenntnis aus zu betrachten, die die Zusammenhänge herstellt und die Teile aus dem Ganzen begründen kann. Aus dem Mannigfaltigen zur Einheit der Erscheinungen aufzusteigen, den Zusammenstoß und die Einheit der Gegensätze zu begreifen, ist die Methode der Dialektik. Sie ist das Herz der marxistisch-leninistischen Theorie, das die Bewegung der Pluralität von Erfahrungen, Verallgemeinerungen, Aspekten in Gang hält und zugleich ihren Zerfall in einen sich selbst kastrierenden Pluralismus verhindert.
| Holz, Hans Heinz - Niederlage und Zukunft des Sozialismus
"Kommunistische Parteien sind heute in der Krise - nicht nur in der BRD. Diese Krise der Parteien ist nicht eine Krise des Marxismus, der seine theoretische Kraft nicht zuletzt darin bewiesen hat, daß mehr und mehr auch die bürgerliche Wissenschaft von Denkmodellen und Einzeleinsichten marxistischer Forschung Gebrauch macht und sie in sich integriert, ohne allerdings das System im ganzen und seine weltanschaulichen Konsequenzen zu akzeptieren. Natürlich ist der Marxismus, wie jede Wissenschaft, herausgefordert durch neue Entwicklungen der Wirklichkeit, die es mit Weiterbildung der Theorie zu begreifen gilt... Die Voraussetzungen einer nicht bloß pragmatischen, gar opportunistischen sozialistischen Politik, die das Ziel der Überwindung des Kapitalismus und des Übergangs zur klassenlosen Gesellschaft nicht aus dem Auge verliert, ist die ständige Arbeit an der richtigen Theorie der Wirklichkeit, in der wir leben..." (Hans Heinz Holz)
1992, 2.Aufl., Kart., 120 S., ISBN 3-910080-00-6
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