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Was nützen all die die hochoffiziellen und auch privaten Betroffenheitsgesichter wie jetzt wieder zu den Veranstaltungen 65 Jahre nach Auschwitz, zum Tag der Opfer des Faschismus, wenn in der nordsächsischen 150-Seelen-Gemeinde Klingenhain eine Sinti-Familie jahrelang terrorisiert werden darf? Von Polizei und Staatsanwaltschafts Gnaden - denn wie sonst soll man es nennen, wenn alle bisherigen Anzeigen der Betroffenen im Sande verliefen?

Aber was nun? Am zweiten Weihnachtsfeiertag wurde das Zuhause der Familie abgefackelt (zum Glück hielt sie sich bei Freunden auf, so dass das Ganze nicht wie in Solingen endete). Denn Brandstiftung war es, das konnte nicht verschwiegen werden, nachdem jetzt die Opferberatung Leipzig mit einer Pressemeldung und einem Spendenaufruf die Öffentlichkeit überhaupt erst über den Brand informiert hatte. Obwohl die Existenzgrundlage einer neunköpfigen Familie über Nacht zerstört wurde, kann laut Polizeidirektion Westsachsen und ihrem Pressesprecher Michael Hille dennoch nicht von einem fremdenfeindlichen Hintergrund ausgegangen werden. Bewahre! Auch Sachsens Ausländerbeauftragter Martin Gillo tut alles für eine verlogene Statistik, schließlich weiß er, was hier und heute Staatsräson ist: "Die schwere Brandstiftung ist ein bedrohliches und bedauerliches Verbrechen."

Aber: Die Gespräche vor Ort hätten bestätigt, dass es bislang keine Fakten gebe, die ein rassistisches Motiv der Tat belegten oder entkräfteten. Das weiß er wohl von der parteilosen Gemeinde-Bürgermeisterin Gabriele Hoffmann, der nämlich gar nichts von rechtsextremen Anfeindungen und Übergriffen in Klingenhain bekannt ist. Es gäbe zwar einige NPD-Wähler in der Region, aber sonst kein Problem, der Ort sei nicht rassistisch, meint sie, die von Amts wegen informierte.

Die Dame wollte wirklich nichts gewusst haben, von der - gelinde gesagt - Antipathie der Dorfbewohner, von dem rassistischen Klima? Sie wusste nichts von den Beschimpfungen der nun Wohnungslosen als "Neger", "Zigeuner" oder "Dreckpack", von den Prügeln für die dunkelhäutigen, dunkeläugigen, dunkelhaarigen Kinder, von Einbrüchen und Vandalismus im Wirtschaftsgebäude der einstigen landwirtschaftlichen Genossenschaft, in dem die Sinti-Familie H. wohnte und ihren Caravan-Handel betrieb? Einmal beschoss ein Nachbar sogar das Haus. Unbehelligt durften die örtlichen Neonazis in den vergangenen Monaten das Haus viermal angreifen. Im September 2009 wurde die Fensterscheibe des Kinderzimmers eingeworfen. Um den Stein war ein Zettel mit den Worten gewickelt "Haut ab, ihr Kanaken!". Familienvater H. berichtet: "Einmal kam es sogar so weit, dass sich Neonazis vor uns mit Bierflaschen aufbauten, als wir unsere Kinder von der Schule abholen wollten. Die Direktorin musste sich schützend vor uns stellen. Die Polizei kam und hat abgesperrt, damit wir rausfahren konnten." Ein Schulwechsel brachte keine Besserung. Die Polizei stellte bisher alle Anzeigen ein.

Vielleicht hätte es ja schon genügt, die Klingenhainer und überhaupt die ganze Gemeinde zu Bildungsveranstaltungen einzuladen. Vielleicht hätte eine Diskussion in der Schule darüber geholfen, dass die schon vor 600 Jahren aus dem indisch-pakistanischen Raum auch in Sachsen eingewanderten "Zigeuner" - so der Fremdbegriff für dieses fahrende Volk - gar kein so verachtenswertes Lebensmodell bevorzugen. Zu ihm gehört vor allem der feste Familienzusammenhalt, die Kinderliebe, die Lebensfreude und nicht das gierige Streben nach Geld und Wohlstand. Vielleicht war es einfach nur nötig, die Dörfler wieder einmal daran zu erinnern und es den Jüngeren überhaupt erst einmal zu sagen, dass Sinti und Roma wie die Juden jahrhundertelang herhalten mussten als Sündenböcke für Missstände, die andere verursachten. Ein bisschen Geschichte über die behördlich intensiv organisierte Kriminalisierung dieser Volksgruppe würde nicht schaden, die mit der "Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens" in Himmlers Reichssicherheitshauptamt in Berlin ihren schlimmen Höhepunkt fand. Siehe oben: Auschwitz.

Es spricht viel dafür, dass die Flucht der Familie auf einen Campingplatz in Frankfurt am Main in Klingenhain sehr begrüßt wird. Dafür berichten die zur Brandstiftung eisern schweigenden Dorfbewohner umso freizügiger davon, dass die Familie sich nie ins Dorfleben integrieren wollte und es immer wieder Streitigkeiten gegeben habe. Das ist das altbekannte Szenario: Die Opfer sind selber schuld! Dass erinnert an den Prozess vom vorigen Jahr gegen die braunen Angreifer einer Mügelner Pizzeria (ebenfalls nordsächsischer Kreis). Da hatte der Richter den sich verteidigenden Indern vorgeworfen, sie hätten mit ihrer Gegenwehr die Schläger schließlich unnötig provoziert. Die Nazis bekamen denn auch das Recht auf Selbstverteidigung zugesprochen! Freispruch also.

Familienvater Rudolf H. hält den Klingenhainern entgegen: "Wir wollten uns einbringen. Aber von Anfang an sind wir nur auf breite Ablehnung gestoßen. Fast niemand wollte mit uns reden." Das braucht auch künftig keiner. Denn Zurückkehren an diesen Ort will die jetzt fast mittellose Familie auf keinen Fall.

Alles schön deutsch paletti.

 
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