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Dossier: Ja, der Franz! Ja, der Wahnsinn! // Volksgemeinschaft, reloaded? Die
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Von Bachramow

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"Die Welt zu Gast bei Freunden", heißt der schöne DFB-Slogan für DAS nationale Großereignis in Deutschland. Land auf, landab werden die Bundesbürger eingestimmt auf den Taumel der WM-Begegnungen, Entrinnen: unmöglich. Kinowerbung, Zeitungsannoncen, Supermarktangebote deutscher Nationalflaggen, Fernsehspots, Imagekampagnen und kluge Politikersprüche bilden den Kanon, der Deutschland fit machen soll für das internationale Kräfteringen.

Endlich mal wieder was los im Lande - wunderbar!

- Ein Streifzug durch bundesdeutsche Realitäten -



Wunderbar? Auf jeden Fall für die letzte richtig boomende Branche dieses Landes, nämlich die Kampagnenindustrie. Nachdem "ein Ruck durch Deutschland" ging, Deutschland das "Land der Ideen" wurde und obendrein "du" auch noch "Deutschland", wird nun eine Weltmeisterschaft als multimediales Werbespektakel inszeniert, dass nicht krasser an den Realitäten vorbeigehen könnte. "Die Welt zu Gast bei Freunden" liest sich immer dann besonders zynisch, wenn darunter die letzten 10 Schlagzeilen bundesdeutscher Realitäten eingeblendet werden: "rechtsextremistische Gewalttaten nehmen an Umfang und Brutalität zu"; "nur eine WM-Mannschaft nimmt Quartier in Ostdeutschland - Angst vor Fremdenfeindlichkeit?"; oder auch "Mordversuch an afrikanischem Wissenschaftler - rechtsextremistischer Hintergrund wahrscheinlich".
Gerade im und nur durch Kontrast zur völlig divergierenden Wirklichkeit macht eine Kampagne überhaupt Sinn. "Du bist Deutschland" versprach Heimeligkeit und nationale Identifizierung, während die Schlangen vor den "Agenturen für Arbeit" immer länger wurden. Deutschland wurde das "Land der Ideen", als eine PISA-Studie das hoffnungslose Scheitern deutscher Nachwuchskräfte offenbarte. Und die Welt wird "zu Gast bei Freunden" sein, während diese Freunde auf der Straße totgeschlagen werden.

Weniger wunderbar wird das Großereignis für all diejenigen sein, die fälschlicherweise annehmen, bei einer "Fußball-WM" würde es wenigstens am Rande um Fußball gehen. Wer sich Premiere TV nicht leisten kann, dennoch aber mehr sehen möchte, als die Öffentlich-Rechtlichen bereitstellen, hat wenigstens noch die Möglichkeit, dem Ballverlauf bei den öffentlichen Großübertragungen, dem sog. "Public Viewing", zu folgen - alkoholisierter Mob inklusive. Viel mehr Möglichkeiten bleiben nicht - denn an Karten zu kommen, gerade bei den wichtigsten Finalspielen, ist unrealistischer, als auf sechs Richtige mit Superzahl zu tippen. Die Preise auf dem Schwarzmarkt haben schon jetzt Höhen erreicht, die eine normalverdienende Kleinfamilie in den Offenbarungseid treiben dürften.

Selbst wer ernsthaft darüber nachdenkt, für eine WM-Karte eine Hypothek aufzunehmen, muss über eine gehörige Schmerzgrenze verfügen, was den persönlichen Datenschutz angeht: doch zunächst ist eine "Master-Card" erforderlich; denn zum Ticket-Kauf sind schlicht keine Konkurrenten zugelassen. Ist diese Hürde genommen, wird neben Name, Anschrift, Nationalität, Geschlecht, Geburtsdatum, Ausweisnummer (Für Kinder soll ein Ausweis beantragt werden), E-Mail-Adresse, Fax und Telefonnummer selbst der Lieblingsverein („Fan von“) erhoben. Und erst nachdem Datenschutzorganisationen Sturm liefen, wurde das Häkchen "Einwilligung in die gewerbliche Nutzung der persönlichen Daten" mit dem Zusatz "freiwillig" versehen. Gewerbliche Nutzung, das meint natürlich nicht weniger als Weiterverkauf der Daten an Werbe- und Marktforschungsinstitute. "Fit für Deutschland" (so Barmer, ZDF und Bild) - das beginnt bei der Förderung der Wirtschaft!
Nur der Sicherheit dienen sollen alle diese (für einen Stadionbesuch kaum relevanten) Daten. Genauso, wie auch der im Ticket implementierte RFID-Chip der Sicherheit dienen soll - neben der eindeutigen Zuordnung des Tickets zur Person - und der (technisch immerhin möglichen) lückenlosen Bewegungsaufzeichnung im Stadion? Kaum jemand weiß es.
Nicht zum ersten Mal allerdings wäre ein Fußballereignis als großer Testlauf für die Akzeptanz neuer obrigkeitsstaatlicher Maßnahmen genutzt worden. So wie heutzutage der RFID-Chip unter realistischen Großbedingungen getestet werden soll, machte 1998 die sog. "Hooligan-Verordnung" Karriere. Zum Einsatz kam sie unter anderem später unter dem Namen "Datei Gewalttäter", als politischen Aktivisten die Ausreise nach Genua verwehrt wurde.

Sicherheit ist natürlich immer gut. Unsicher fühlen braucht sich während der WM auch niemand - abgesehen von der ausländischen Mannschaft mit Ost-Quartier eventuell. Neben zigtausenden Polizisten, haufenweise privaten Sicherheitsdiensten und allen möglichen mehr oder weniger uniformierten Stadionbewachern sollen nämlich auch 2000 Bundeswehrsoldaten zum Einsatz kommen, um die WM vor dem Terrorismus, der unser Land mit schöner Regelmäßigkeit heimsucht, zu sichern. Problematisch dabei: dies ist durch das Grundgesetz verboten. Doch Innenminister Schäuble, den das Thema "Einsatz der Bundeswehr im Inneren" schon seit Jahrzehnten nicht schlafen lässt, nutzt die WM als Hebel, um nun endlich mit seinem Vorstoß durchzukommen. Aussichtslos ist das nicht.
Für den festlichen Rahmen der Weltmeisterschaft werden paradierende Truppenteile sicherlich zuträglich sein. Und unter leichter Artillerie bummelt es sich sowieso entspannter - warum also die Aufregung? Der Fall ist ähnlich gelagert wie das obige Beispiel mit der "Gewalttäter-Datei": ist der verfsassungsrechtliche Weg einmal freigeräumt, wird von der Möglichkeit auch rege Gebrauch gemacht werden. Zu den sowieso schon armeemäßig hochgerüsteten Polizeikräften, die bevorzugt bei Demonstrationen für den den rechten Grusel sorgen, könnte sich also bald auch noch die bewaffnete Truppe gesellen. Dann also: Hut ab und Hände an die Hosennaht, wenn ein Offizier vorbeikommt!

Das alles ist wenig erfreulich. Ein kleiner Lichtblick mag immerhin die zu erwartende Farbenfreude in deutschen Städten sein, wenn man davon ausgeht, dass all die unters Volk verhökerten BRD-Fahnen, -Flaggen und -Wimpel auch gehisst werden, wenn die "Freunde" kommen - eine Dichte an Flaggenschmuck wie wohl seit über 60 Jahren nicht mehr.
Eingestimmt wird das "größte Nationalteam aller Zeiten" (telekom über Deutschland) mit nationaler Ramborethorik: "Hier gibt es kein Ich. Hier gibt es nur Wir", gibt Temporärmonarch Klinsmann im Kinospot das Motto an. "Ich kenne keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche", hieß das mal 1914. "Du bist nichts, dein Volk ist alles", 20 Jahre später.
Der "Fanclub Deutschland 06" (eine Initiative von Bundesregierung und Industrie über Deutschland) wird die ultimative Verschmelzung von Nation und Team, das endgültige "Du-bist-Deutschland" - jeder Olli Kahn, jeder Klinsmann, jeder ein kleiner Kaiser Franz.
-Ja der Franz, ja der Wahnsinn: wie ein Mann wird das Land hinter seinen Helden stehen und Feindsichtung mit den "Freunden" aufnehmen: “Grob gesagt, gibt diese Mannshaft schon etwas wieder vom Nationalcharakter unseres Volkes. Sie hat gekämpft, nie aufgegeben und war immer mit vollem Einsatz dabei.” (Helmut Kohl, 1986, Mexiko)

Doch nicht nur Spielglück, nationale Metamorphose und die glitzernde Wehr mit klingendem Spiel stehen auf der Tagesordnung; es geht um viel mehr: um Weltrekorde! Heißer Anwärter wird die deutsche WM mindestens auf folgende Triumphe:
- DAS deutsche Ereignis mit der massenhaftesten Zwangsüberprüfung mehr oder weniger beteiligter Personen - immerhin geschätzte 250.000 Menschen, vom Ticketverkäufer bis zur Pommesbudenbetreiberin, werden vom Verfassungsschutz "routinemäßig" und systematisch auf ihre Vorgeschichte überprüft werden, natürlich ohne Widerspruchsmöglichkeit gegen das Ergebnis. Rasterfahndung - das war gestern!
- vielleicht DIE Fußball-WM mit der größten Militärdichte - es gilt die argentinische Militärjunta als Gastgeber 1978 aus dem Feld zu schlagen! Mit Bundesinnenminister Schäuble ist auch das machbar!
- und, noch nicht genug - vielleicht wird die WM sogar DAS Event mit den meisten Toten und Verletzten. In mindestens vier Großstadien sieht Stiftung Warentest "gravierende Sicherheitsmängel" (Berlin, Leipzig, Kaiserslautern, Gelsenkirchen). Im Berliner Stadion wären im Falle einer Panik zum Beispiel "kaum Fluchtwege vorhanden" - wird das vielleicht die größtmögliche Verschmelzung des Volkskörpers werden?

Und - ach ja: Ein paar Spiele werden wohl auch noch gespielt werden. "Das Spiel dauert 90 Minuten" und "der Ball ist rund" (Bundes-Sepp), und es wird kommen, wie es halt kommt: Deutschland wird kämpfen, stürmen und nicht wackeln. Bis ins Viertelfinale wird das klappen, und wenn dann was dazwischenkommt, steht die Bundeswehr Gewehr bei Fuß. Wäre ein drohendes Scheitern im Halbfinale nicht vielleicht eine gute Gelegenheit, das "Eurofighter-Programm" auszuweiten?


 
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  Kommentar zum Artikel von Ivan:
Mittwoch, 07.06.2006 - 23:51

Zu allem Überfluss haben wir in Gelsenkirchen einen Tag nach der Eröffnung die NPD am Arsch. Die werden am Hauptbahnhof aufmarschieren und die abreisenden polnischen Fußballfans einen Tag nach dem Spiel Polen- Äquador beleidigen, sowie die Anwohner südlich des Hauptbahnhofes in Richtung Stadtteil Ückendorf. Das Argument der Polizei zum Verbot, die NPD schade dem Ansehen Deutschlands in der Welt, wurde vom Verwaltungsgericht prompt zurückgewiesen. (Dümmer und schwächer kann die Begründung auch kaum sein!) Die NPD hat indes erreicht, dass sich die polnischen Fußballfans zurecht provoziert fühlen. Der Naziaufmarsch ist schon seit Wochen Thema in Polen. Schon ist in der öffentlichen Diskussion nur noch von polnischen Hooligans die Rede, nicht mehr von Fans. Welcher polnische Bürger möchte schon von Nazis "empfangen" werden, wo die Nazis ein Drittel der polnischen Bevölkerung abgeschlachtet haben. Und der deutsche Spießbürger und Biedermeier fürchtet eine polnische Gegenwehr mehr als die braune Pest im Land. Auch tausende türkische sowie arabische Einwohner im Südteil der Stadt, wollen sich den Aufmarsch ebenfalls nicht gefallen lassen. Bürgerkriegsähnliche Zustände in Gelsenkirchen sind vorprogrammiert. Da bekommt man den Eindruck, dass es Stellen im Staatsapparat gibt, die der Welt vermitteln wollen, dass die NPD in Deutschland eine ernste politische Kraft ist.
Zu Gast bei Freunden?
Wie heisst ein deutsches Sprichwort: Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde mehr.