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Mit demonstrativer Zurückweisung, faktisch aber relativ zurückhaltenden Maßnahmen reagiert Berlin auf die jüngsten Repressalien Ankaras gegen Menschenrechtler und Journalisten aus Deutschland. Man werde die Kürzung von EU-Zuschüssen für die Türkei diskutieren und eventuell staatliche Exportgarantien deckeln, kündigt Außenminister Sigmar Gabriel an. Tatsächlich hat Brüssel einige bezuschusste Türkei-Programme längst gestrichen, da die erhofften Erfolge ausblieben; auch gehen deutsche Exporte und Investitionen ohnehin bereits zurück. Die vorsichtigen Reaktionen erklären sich daraus, dass Berlin für seine ausgreifende Machtpolitik aus geostrategischen Gründen auch in Zukunft auf die Türkei, seine traditionelle "Landbrücke" nach Mittelost, angewiesen ist, während Ankara sich in zunehmendem Maße vom Westen ab- und dem Osten zuwendet. Die Bundesakademie für Sicherheitspolitik hat kürzlich Experten untersuchen lassen, ob mit einer umfassenden und dauerhaften Abkehr Ankaras und einer Bindung der Türkei an Russland und China zu rechnen ist. Experten warnen vor langfristigen deutschen Einflussverlusten.

Staatsverbrechen

Mit demonstrativer Zurückweisung, faktisch aber eher zurückhaltenden Maßnahmen reagiert Berlin auf Ankaras aktuelle Repressalien gegen Menschenrechtler und Journalisten aus Deutschland sowie aus weiteren europäischen Staaten. Bereits am Mittwoch hatte das Auswärtige Amt den türkischen Botschafter offiziell einbestellt; man habe ihn ins Ministerium "zitiert", um energisch gegen die jüngsten Festnahmen zu protestieren, hieß es anschließend. Noch am selben Tag ließ Außenminister Sigmar Gabriel öffentlich verbreiten, er werde seinen Urlaub unterbrechen, um sich im Ministerium über neue Maßnahmen gegen die Türkei auszutauschen. Er werde die türkischen Provokationen nicht länger hinnehmen. Nicht näher beschriebene "deutsche staatliche Stellen" ließen sich gestern in der Presse mit der Mutmaßung zitieren, die türkische Regierung verfolge den Plan, "systematisch Deutsche als Geiseln zu nehmen": Sie wolle "offenbar eine kritische Masse aufbauen in der Erwartung, die Geiseln gegen türkische Staatsbürger austauschen zu können, die in Deutschland Asyl beantragt haben, da sie in der Türkei unter Terrorverdacht stehen".1 Der Vorwurf, Ankara begehe Geiselnahmen und damit schwerste Staatsverbrechen, verlangt harsche Gegenmaßnahmen.

Reden, nachdenken, beraten...

Die tatsächlichen Schritte, die Außenminister Gabriel gestern angekündigt hat, bleiben häufig im Ungefähren und vollziehen zum Teil nur Verschlechterungen in den Beziehungen zur Türkei nach, die längst eingetreten sind. So hat der Minister zwar geäußert, man werde "in den nächsten Tagen und Wochen" in der EU über die sogenannten Vorbeitrittshilfen für Ankara "sprechen".2 Dabei ließ er unerwähnt, dass ein Teil der Gelder - insgesamt handelt es sich um 4,45 Milliarden Euro im Zeitraum von 2014 bis 2020 - bereits ausgezahlt wurde und einige Programme, die daraus finanziert wurden, von der EU-Kommission bereits eingestellt worden sind, weil sie, wie berichtet wird, "nicht die gewünschten Ergebnisse brachten".3 Darüber hinaus hat Gabriel erklärt, man werde "darüber nachdenken, ob wir nicht Hermes-Exportbürgschaften deckeln". Die deutschen Türkei-Ausfuhren sind im ersten Quartal 2017 ohnehin schon um acht Prozent eingebrochen; auch die Investitionen aus Deutschland gehen längst massiv zurück. Vielleicht noch die konkretesten Folgen verspricht, dass das Auswärtige Amt seit gestern allen Türkeireisenden, auch Touristen, offiziell "zu erhöhter Vorsicht" rät.4 Allerdings ist der deutsche Türkei-Tourismus ebenfalls längst eingebrochen - in den ersten fünf Monaten 2017 um ein Viertel gegenüber dem Vorjahreszeitraum und um die Hälfte gegenüber den ersten fünf Monaten 2015.5 Auf eine förmliche Reisewarnung, die üblicherweise kostenlose Umbuchungen oder Stornierungen ermöglicht und den Tourismus eines Landes ernsthaft schädigen kann, hat Berlin bewusst verzichtet.

Erdoğans Bruch

Der offenkundige Widerspruch zwischen großer Gestik und zurückhaltenden Schritten erklärt sich daraus, dass Berlin sich durch Ankaras Provokationen zu demonstrativem Handeln gezwungen sieht, einen Bruch jedoch um jeden Preis vermeiden will, da er deutschen Interessen widerspräche: Deutschland ist bei seiner ausgreifenden Weltpolitik aus geostrategischen wie aus ökonomischen Gründen auf seine herkömmliche "Landbrücke" nach Mittelost angewiesen (german-foreign-policy.com berichtete6). Umso größere Sorge ruft die erkennbare Absicht von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan hervor, die traditionell überaus enge Bindung des Landes an den Westen zu brechen. Jüngstes Beispiel dafür ist, dass Ankara zahlreiche deutsche Firmen, darunter prominente Konzerne wie Daimler und BASF, auf eine Liste angeblicher Terrorunterstützer gesetzt und die Liste dem Bundeskriminalamt (BKA) übergeben hat. Die Folgen für die deutsch-türkischen Wirtschaftsbeziehungen liegen auf der Hand.



Dass Ankara sie nicht vorausgesehen hätte, ist nicht ernsthaft anzunehmen. Zugleich zeigen aktuelle Wirtschaftsdaten, dass das Schrumpfen der Geschäfte mit Deutschland und der EU mit dem Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen zu anderen Weltregionen einhergeht: Dem Wachstum der türkischen Exporte um 9,2 Prozent im ersten Quartal 2017 stand ein Rückgang des deutschen Exportanteils von 10,0 auf 9,4 Prozent und ein Rückgang des EU-Exportanteils von 48,2 auf 46,5 Prozent gegenüber; bei den türkischen Importen (plus 7,7 Prozent im ersten Quartal 2017 gegenüber dem Vorjahreszeitraum) sanken der deutsche (von 10,6 auf 8,7 Prozent) und der EU-Anteil (von 38,7 auf 35,8 Prozent) noch deutlicher.7 Den Schaden hat aktuell nicht die Türkei, sondern Deutschland und die EU.

Das Verhältnis zu Russland

Die Frage, ob mit einer vollständigen Abkehr der Türkei vom Westen und einer umfassenden Hinwendung nach Osten zu rechnen ist, beschäftigt deutsche Strategen seit geraumer Zeit. Zuletzt hat die Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS) zwei Kurzstudien darüber erstellen lassen. Eine von ihnen untersucht die Beziehungen der Türkei zu Russland, die im vergangenen Jahr eine deutliche Intensivierung erfahren haben - nicht zuletzt im Rahmen der Verhandlungen über einen Waffenstillstand für Syrien in der kasachischen Hauptstadt Astana, die Moskau gemeinsam mit Teheran und Ankara führt. Der Autor der BAKS-Kurzstudie weist darauf hin, dass auch auf weiteren Feldern die türkisch-russische Zusammenarbeit enger wird. So bilde sich etwa mit dem Bau der Pipeline Turkish Stream "ein Kooperationsverhältnis heraus", heißt es bei der BAKS.8 Auch der Bau eines Atomkraftwerks im türkischen Akkuyu durch Rosatom werde zumindest eine gewisse Abhängigkeit schaffen. Dasselbe gelte für den jüngst in Ankara beschlossenen Kauf des russischen Raketenabwehrsystems S-400. Dennoch bestünden ernste Rivalitäten zwischen Ankara und Moskau fort, urteilt der BAKS-Autor - unterschiedliche Interessen in Syrien etwa, die Bestrebungen der Türkei, trotz Turkish Stream nicht in höhere Energieabhängigkeit von Russland zu geraten, oder das auf beiden Seiten vorhandene Streben nach möglichst großem Einfluss im Schwarzen Meer. In der BAKS-Analyse heißt es, "eine allumfassende Partnerschaft zu Russland" als künftige "Alternative zur NATO und zu Europa" sei "für die Türkei aus interessenspolitischer Sicht nicht belastbar."

Das Verhältnis zu China

Die Autoren der zweiten BAKS-Kurzstudie, die sich mit Ankaras Beziehungen zu China befasst, weisen darauf hin, dass die Türkei für die Volksrepublik vor allem im Zusammenhang mit der "Neuen Seidenstraße" ("One Belt, One Road" - german-foreign-policy.com berichtete9) große Bedeutung gewinnt - sie sei "zentraler Knotenpunkt der neuen 'Seidenstraßen' an Land und auf See".10 Tatsächlich boomen die türkisch-chinesischen Geschäfte schon jetzt; mittlerweile hat China Deutschland als wichtigster Lieferant der Türkei überholt und stellt bereits mehr als ein Achtel der türkischen Importe. Vorstöße aus Ankara, die auf eine Mitgliedschaft in der häufig als östlich-asiatische Alternative zur NATO gehandelten Shanghai Cooperation Organisation (SCO) zielen11, würden in Beijing "skeptisch" beurteilt, berichtet die BAKS: In der chinesischen Hauptstadt glaube man nicht an eine umfassende Hinwendung der Türkei nach Osten; man gehe stattdessen davon aus, dass die türkischen SCO-Kontakte "als Trumpf bei Gesprächen mit der NATO, den USA und der EU" dienen sollten und es Ankara dabei darum gehe, "die strategischen Optionen und die Unabhängigkeit des Landes" zu erhöhen. Allerdings biete die derzeitige Lage "eine außergewöhnliche Gelegenheit zur Entwicklung umfassenderer Beziehungen zwischen der Türkei und ... China".

"Auf Knien nach Ankara"

Die Aussicht auf einen wohl nicht umfassenden, aber doch spürbaren Einflussverlust in Ankara veranlasst Berlin, sich weiterhin vergleichsweise nachgiebig zu zeigen. EU-Kommissar Günther Oettinger hat die heutige Lage bereits Anfang 2013 zutreffend vorausgesagt. Mit Blick auf die schwächelnde deutsche Stellung in der Türkei bei gleichbleibend starken geostrategischen Interessen erklärte Oettinger: "Ich möchte wetten, dass einmal ein deutscher Kanzler oder eine Kanzlerin im nächsten Jahrzehnt ... auf Knien nach Ankara robben wird, um die Türken zu bitten, Freunde, kommt zu uns."12


Anmerkungen:
1 Berlin befürchtet türkische Politik der "systematischen Geiselnahme". Frankfurter Allgemeine Zeitung 20.07.2017.
2 Außenminister Sigmar Gabriel zur Lage in der Türkei. Pressemitteilung des Auswärtigen Amts. 20.07.2017.
3 Bundesregierung verschärft Reisehinweise für Türkei. www.spiegel.de 20.07.2017.
4 Türkei: Reise- und Sicherheitshinweise. www.auswaertiges-amt.de.
5 Christian Buttkereit: Die Russen retten die Statistik. www.tagesschau.de 31.05.2017.
6 S. dazu Operationsstützpunkt Türkei und Operationsstützpunkt Türkei (II).
7 Wirtschaftsausblick Mai 2017 - Türkei. www.gtai.de 31.05.2017.
8 Kaan Sahin: Die russische Option: Kann die Türkei eine Allianz mit Russland schmieden? Bundesakademie für Sicherheitspolitik: Arbeitspapier Sicherheitspolitik Nr. 17/2017.
9 S. dazu Chinas Jahrhundertprojekt.
10 Jan Gaspers, Mikko Huotari, Thomas Eder: Kann die Türkei die Shanghai-Karte spielen? Chinas Position zu Ankaras eurasischen Sicherheitsambitionen und ihre Bedeutung für die europäische Sicherheitsarchitektur. Bundesakademie für Sicherheitspolitik: Arbeitspapier Sicherheitspolitik Nr. 6/2017.
11 Der SCO gehören die China, Kasachstan, Kirgisistan, Russland, Tadschikistan, Usbekistan und seit kurzem auch Indien und Pakistan an.
12 S. dazu Freunde, kommt zu uns!.


 
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