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Dossier: Hände weg von Libyen! // Aufstand in Libyen: Metropolen planen die
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TRIPOLIS/BERLIN/WASHINGTON (02.03.2011) - Westliche Kriegsmarinen setzen unter deutscher Beteiligung ihren Aufmarsch vor der Küste Libyens fort. Während dort mittlerweile drei deutsche Kriegsschiffe eingetroffen sind, nähern sich nun auch Schiffe der U.S. Navy, darunter ein Zerstörer und ein Flugzeugträger samt Strike Group. Alle Optionen müssten offengehalten werden, heißt es zur Erklärung. Unübersichtlich gestaltet sich für die Bundesrepublik die Suche nach neuen Kooperationspartnern in Libyen, die das Gaddafi-Regime ersetzen könnten. Die in anderen Staaten üblicherweise angewandten Schritte zum Aufbau von Kontaktnetzwerken in die Eliten jenseits der unmittelbaren Regierungskreise - durch Kulturinstitute und Stiftungen - hat Tripolis stets wirksam verhindert; die Kontaktaufnahme zu Anführern der Aufstandsbewegung gestaltet sich daher recht schwierig. Als mögliche Partner bieten sich Anführer der libyschen Stammesverbände an, die bis heute große Bedeutung besitzen, zumal einige von ihnen wichtige Ölfelder kontrollieren. Vorbild für zahlreiche Anhänger der vor allem in Ostlibyen erfolgreichen Rebellion ist die Monarchie der Jahre 1951 bis 1969, in der die ostlibyschen Stämme eine stärkere Stellung innehatten. Libyen orientierte sich damals außenpolitisch nach Westen und stand in halbkolonialer Abhängigkeit.

Kriegsschiffe vor der Küste

Berlin weitet seine Maßnahmen gegen das libysche Regime aus. Nach den Vereinten Nationen hat auch die EU Sanktionen verhängt; sie beinhalten Reiseverbote für Regierungsmitglieder sowie die Sperrung diverser Bankkonten. Der deutsche Außenminister plädiert dafür, zwar weiterhin Öl aus Libyen zu beziehen, es aber 60 Tage lang nicht zu bezahlen. Zudem stehen drei Kriegsschiffe der Bundesmarine mit Hubschraubern vor der libyschen Küste bereit. An der Evakuierung zahlreicher Mitarbeiter der BASF-Tochter Wintershall aus einem Ölfeld in der libyschen Wüste waren einem Pressebericht zufolge bewaffnete Soldaten des Kommando Spezialkräfte (KSK) beteiligt.1 Die Bundesmarine hält Stellung, während die U.S. Navy Kräfte zusammenzieht. So hat ein Zerstörer der US-Marine soeben den Suezkanal passiert und Kurs auf Libyen genommen. Im Roten Meer, nicht weit entfernt, kreuzt ein US-Flugzeugträger mit seiner Strike Group, weitere Kriegsschiffe können jederzeit mobilisiert werden.2 Militärs weisen darauf hin, dass Libyen für europäische Streitkräfte ohnehin rasch und problemlos erreichbar ist. So startete die deutsche Luftwaffe ihre Flüge zur Evakuierung von Wintershall-Angestellten auf Malta. Das EU-Mitglied Malta arbeitet seit 2008 mit der NATO im Rahmen des Programms "Partnership for Peace" zusammen.3

Kaum tragfähige Netzwerke

Unübersichtlich gestaltet sich nach wie vor die Suche nach neuen Kooperationspartnern, die - aus deutscher Sicht - an die Stelle des Gaddafi-Regimes treten könnten. Die Mechanismen, auf die die Bundesrepublik in vergleichbaren Fällen zurückgreifen kann, funktionieren im libyschen Falle nicht: Einrichtungen wie das Goethe-Institut oder Büros der parteinahen Stiftungen, die in anderen Ländern Kontakte zu den Eliten auch jenseits der jeweiligen Regierungen herstellen, konnte Berlin in Tripolis nicht etablieren. Die FDP-nahe Friedrich-Naumann-Stiftung etwa, die beispielsweise in Ägypten seit Jahren Beziehungen zur jetzt hoffnungsfrohen Opposition unterhält4, hat sich um Libyen bislang nicht gekümmert. Die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung versuchte mehrfach, sich von Tunesien aus in Libyen zu etablieren, scheiterte jedoch: Ihre Anträge seien von der Regierung in Tripolis "im Endeffekt" nie entschieden worden, berichtet ein Nahost-Experte der Organisation.5 Einigen Zusammenschlüssen der libyschen Opposition im Exil wird nachgesagt, von den USA unterstützt zu werden. Über tragfähige eigene Netzwerke, die auf dem Weg an die Macht gefördert werden könnten, verfügt Berlin kaum.

Stammesverbände

Mit Interesse ist daher in den vergangenen Tagen der Versuch des erst kürzlich zurückgetretenen libyschen Justizministers Mustafa Muhammad Abd Al Jalil beobachtet worden, in Benghasi eine Übergangsregierung zu bilden. Al Jalil, der dies in Kooperation mit dem bisherigen Botschafter Libyens in den USA angestrebt haben soll, stieß jedoch rasch auf Widerstand: Einer Einmischung aus dem Ausland stehe man nicht offen gegenüber, hieß es beim National Libyan Council, einem zur Zeit einflussreichen Bündnis verschiedenster Oppositionsverbände.6 Einige Hoffnung wird auf die ostlibyschen Stämme gesetzt. In Libyen besitzen Stammesverbände bis heute eine große soziale Bedeutung. Nach dem Kollaps des Stammesbündnissystems, mit dem Gaddafis Clan sich seine Vormacht gesichert hatte, wird nun mit neuen Herrschaftsabsprachen gerechnet. Es komme dabei für den Westen darauf an, sich die Loyalität derjenigen Stämme zu sichern, welche die Ölfelder kontrollierten, ist zu hören. Entsprechende Bemühungen sind bereits im Gange. Drohten die ostlibyschen Stämme zunächst, den Ölexport als Druckmittel zu nutzen, um den Westen zur militärischen Intervention gegen das Gaddafi-Regime zu drängen, haben sie jetzt die Belieferung der EU wieder aufgenommen. Unklar ist, welche Absprachen vorausgingen.7

Halbkolonial

Programmatische Aussagen, wie eine künftige libysche Regierung zu gestalten sei, sind aus dem National Libyan Council oder anderen relevanten Zusammenschlüssen bislang nicht bekannt. Als einigendes Symbol gilt die Fahne der Monarchie (1951 bis 1969), in der die ostlibyschen Stämme einen größeren Einfluss als später unter Gaddafis Regime besaßen. Damals band sich Tripolis außenpolitisch eng an den Westen, ohne seine Erdölerlöse zugunsten politischer Eigenständigkeit zu nutzen. Die halbkoloniale Abhängigkeit, in der Libyen stand, symbolisierte in den 1950er und 1960er Jahren der US-Militärstützpunkt Wheelus Air Base bei Tripolis, auf dem mehrere tausend US-Soldaten stationiert waren. Nachdem sich 1969 eine Gruppe nach wirklicher Unabhängigkeit strebender Offiziere - darunter Muammar al Gaddafi - an die Macht geputscht hatte, mussten sich die US-Truppen zurückziehen. Das Bemühen, ein eigenständiges Libyen aufzubauen, mündete in die allgemein bekannte Entwicklung hin zu einem höchst repressiven Staat, der dem Westen seit Ende der 1990er Jahre noch eine Weile als Partner diente und nun in blutigen Zerfallskämpfen sein Ende findet. Ob es danach zu einem außenpolitisch abhängigen Arrangement wie vor 1969 kommt oder Libyen sogar in kleine, vom Westen umso leichter beherrschbare Reststaaten zerfällt, ist noch nicht abzusehen.

Pogrome

Die sozialen Qualitäten der Aufstandsbewegung gegen das brutale Gaddafi-Regime lässt ein Blick auf die jüngsten Attacken der Oppositionskräfte gegen schwarzafrikanische Migranten erahnen. In Städten wie Benghasi und Al Baida machen Aufständische, nachdem sie die Repressionsapparate des Regimes in die Flucht geschlagen haben, Jagd auf Schwarze. Zur Begründung heißt es, das Regime habe Söldner aus Ländern südlich der Sahara gegen Protestierende eingesetzt. Tatsächlich werden, während hellhäutige Überläufer auf Jubel stoßen, Dunkelhäutige wahllos verfolgt und zu Dutzenden gelyncht - Migranten auf dem Weg nach Europa, die nie die Absicht hatten, zu Waffen zu greifen, inklusive. In Al Baida etwa wurden 15 Schwarze am 18. und 19. Februar von einem Mob gehängt; sie waren in der Wüstenstadt Sabha, die man auf dem Weg aus dem Süden zu den Küsten des Mittelmeers kreuzt, mit dem Versprechen in ein Flugzeug gelockt worden, in Al Baida an einer friedlichen Demonstration für Gaddafi teilnehmen zu sollen und dafür kostenlos mit dem Flugzeug an die Mittelmeerküste zu gelangen.8 Ähnlich wie in den Jahren 2000 und 2001, als in Libyen hunderte Schwarze bei rassistischen Pogromen umgebracht wurden, müssen sich in diesen Tagen zahllose Afrikaner mit dunkler Haut in den "befreiten" Städten wie Al Baida und Benghasi versteckt halten, um dem Lynchmord zu entgehen. Unter den "Befreiern" wird auch Berlin seine künftigen Partner suchen, um den Zugriff auf libysches Öl wie auch die Unterstützung bei der Abwehr von Migranten, die Gaddafi bislang gewährte, nicht zu verlieren.


Anmerkungen:
1 KSK-Einsatz in Libyen; www.fr-online.de 28.02.2011
2 U.S. Readies Military Options on Libya; www.nytimes.com 28.02.2011
3 Malta hatte die "Partnership for Peace"-Kooperation erstmals 1995 aufgenommen, sie aber schon 1996 wieder auf Eis gelegt.
4 s. dazu Einflusskampf am Nil und Die deutsche Doppelstrategie
5 Eine demokratische Wüste; www.main-netz.de 01.03.2011
6 Libya opposition launches council; english.aljazeera.net 27.02.2011
7 Libya rebels resume oil exports; www.telegraph.co.uk 01.03.2011
8 Among Libya's Prisoners: Interviews with Mercenaries; www.time.com 23.02.2011



 
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